Ludwigshafen. Herzlich willkommen beim „Festival des deutschen Films 2025“!
Es ist die 21. Ausgabe, meine Damen und Herren, die wir heute Abend feierlich eröffnen. Wir sind stolz und vor allem sind wir froh darüber, soweit gekommen zu sein. Weder Sie noch wir können uns dieses Festival des deutschen Films hier auf der Parkinsel von Ludwigshafen wieder wegdenken. 125.000 Menschen haben im letzten Jahr teilgenommen und so wie der Vorverkauf der Tickets lief, werden es bestimmt auch in diesem Jahr nicht weniger sein. Vor zwei Wochen etwa saß ich daheim an meinem Schreibtisch und fragte mich, mit welchen Worten ich denn diese 21. Ausgabe heute eröffnen sollte. Kurz – aber nur ganz kurz – habe ich mit dem Gedanken gespielt, zu sagen „Schön, dass Sie alle da sind und viel Vergnügen“. Zack, Ende. Das hätte nicht nur mir das Leben erleichtert, ein paar von Ihnen wäre es vielleicht auch ganz Recht gewesen, weil sie Ansprachen und Reden nicht mögen. Den Zeitgeist hätten sie dabei vollkommen auf ihrer Seite. Texte, die länger als 30 Sekunden dauern, gelten vielen als nahezu unlesbar, grüblerische Gedankengänge als ganz schwer verdaulich. Aber ich habe es nicht fertiggebracht, es so schön kurz zu machen. 10 Minuten wird meine Rede dauern. Zum einen, weil dies ein paar von Ihnen doch vielleicht enttäuscht hätte, sind meine Ansprachen zur Eröffnung doch schon eine Tradition geworden und Traditionen sind ja etwas Schönes. Zum andern tue ich es nicht, weil ich unser Filmfestival nicht als etwas ansehe, das ausschließlich zum Spaß da ist – warum, werde ich Ihnen gleich sagen. Zum dritten – das gebe ich jetzt freimütig zu – aber ist die Kurzversion auch daran gescheitert, dass ich es sehr gerne mache, selber gerne diese Rede halte. Womit wir direkt beim Thema wären, dem Thema Egoismus nämlich.
Unser heiliges Ego, unser aller Ego, ist immer größer geworden in diesen 21 Jahren, immer wertvoller und immer bestimmender. Wir setzen es jetzt auch, um ein aktuelles Beispiel, das uns betrifft, zu nehmen, gegen eine Veranstaltung von 125.000 Menschen ein, als Recht darauf, abends als Anwohner hier auf der Parkinsel unsere Ruhe zu haben, finden es ganz angemessen, wenn die 125.000 sich für mich als Einzelmenschen einschränken. Und wir haben auch längst die Gesetze dafür auf unserer Seite. Denn es gilt als hohes Gut, dass möglichst wenig die Rechte des Einzelnen einschränken soll. Hier und überall in Deutschland. Beispiele, dass Kulturveranstaltungen und Volksfeste sich deshalb einschränken müssen, häufen sich und fast immer sind sie rechtens.
All das ist das Ergebnis eines Emanzipationsprozesses der Gesellschaft hin zu einer sehr hohen Rücksichtnahme auf den Bürger als einzelnem Subjekt. Es gilt als Fortschritt und rundum geglückte Zunahme an Freiheit, Freiheit des Einzelnen, die allerdings, wie man sieht, immer auf Kosten der Mehrheit geht. Und vielleicht hat diese überall abgesegnete Ich-Orientierung ja auch etwas damit zu tun, dass wir immer mehr die Organe des Staates eher als Service-Agenturen ansehen, denn als Einrichtungen der Allgemeinheit. Damit verbunden gelten dann auch unsere Politiker im Grunde nicht als Volksvertreter, also als von uns entsandte und beauftragte Vertreter von kollektiven Mehrheitswünschen, sondern eher als Servicekräfte, die so zu funktionieren haben, dass wir uns persönlich möglichst frei und ungehindert entfalten können. Ich schätze, das wird bei vielen in den USA auch das Motiv gewesen sein, diesen Herrn Trump zu wählen, sozusagen als Cowboy, der für einen ganz persönlich den Weg freischießt. Entsprechend unmöglich erscheint vielen hier in Deutschland die neueste Idee unserer Regierung, die Wehrpflicht wieder einzuführen, also einen Dienst an der Allgemeinheit, der meine persönliche Entfaltung gänzlich missachtet. Geht gar nicht. Ein junger Mann hat sogar ein Buch geschrieben dazu, schildert mit fröhlich ausgestelltem Egozentrismus, welch unverschämte Zumutung das wäre – und ich lese, jeder zweite junge Mann in Deutschland stimmt dem zu.
Der Wunsch nach Freiheit, Freiheit des Einzelnen, ist ohne dass wir es so richtig gemerkt haben, ins Fundamentalistische abgerutscht. Wir haben es schlicht übertrieben. Dass niemand nur wegen der Allgemeinheit auf irgendetwas verzichten soll, gilt als normal. Um ein schönes Beispiel aus der aktuellen Nachrichtenwelt zu zitieren, hat ein Kölner Beamter es kürzlich ganz normal und fortschrittlich gefunden, dass in Köln die Spielplätze nicht mehr Spielplätze heißen sollen, weil das ja jemand so verstehen könne, als dass er dort spielen müsse, obwohl er ja vielleicht dort sagen wir heute mal lieber singen oder turnen will. Deshalb heißen die Spielpätze in Köln jetzt „Spiel- & Aktionsflächen“. Weitere Beispiele kennen Sie selber. Alle gehören eigentlich in die Abteilung Comedy. Wirklich liberal ist an solchen vermeintlichen Rücksichtnahmen nichts. Denn für die Mehrheit der Kölner wird das eher ein weiteres Beispiel dafür sein, dass immer ein paar ganz kluge Einzelne mal eben alle Gewohnheiten und Traditionen – nämlich dass die Dinger seit Hundert Jahren eben „Spielpätze“ heißen – kraft besseren Wissens über Bord kippen, sich also in ihrer angeblichen Rücksichtnahme im Grunde ziemlich rücksichtslos verhalten. Aber sie haben dabei selber das wunderbar gute Gefühl, es richtig gut zu meinen mit dieser Umbenennung, nur dass die Mehrheit daraufhin das ziemlich ungute Gefühl hat, dass ihre Gewohnheiten, ihre vertrauten Orientierungen, einfach nichts mehr gelten. Wundert sich jemand wirklich, wenn welche daraufhin in der Wahlurne ein Kreuzchen bei denen machen, die versprechen, mit ihnen wäre alles wieder wie früher?
Wir haben es also geschafft, die Aufklärung vollendet: Das Individuum der Moderne steht prächtig da, ist in voller Blüte entfaltet. Der Einzelne hat sich so weit entfernt vom Einbeziehen der Allgemeinheit, von einem Gemeinsinn in seinem Inneren, wie es sich die Generation meiner Eltern nie hätte vorstellen können. Es ist faszinierend zu sehen, wie an jeder Ecke unserer Gesellschaft peinlich darauf geachtet wird, dass nur ja niemand ausgegrenzt oder übergangen wird, durch möglichst nichts an seiner ganz individuellen Entfaltung gehindert wird. Aber was wie die große Menschenfreundlichkeit aussieht, wie eine wunderbar liberale Gesellschaft, das ist zugleich merkwürdig wehrlos, ja hilflos gegenüber den wirklichen Ungerechtigkeiten, dem Wohlstandsgefälle, der Tatsache, dass immer weniger Arbeiterkinder Abitur machen und immer mehr Kinder reicher Eltern in ihrem Leben noch reicher werden, immer mehr Menschen abgehängt und übervorteilt werden, während es den Privilegierten nicht nur immer besser geht, sie dürfen sich obendrein jetzt auch noch richtig schön gut fühlen, sind sie doch moralisch dafür, dass es allen so gut gehen soll wie ihnen. Moralisch, also theoretisch jedenfalls. Praktisch ist die Angelegenheit doch ein bisschen verlogen, die ganze Liberalität zumindest zugleich von großer Tatenlosigkeit geprägt, von einer tiefen Scheu vor dem Risiko, das jeder praktischen Maßnahme innewohnt, nämlich einen Fehler zu machen. Wie gefährlich aber ist es für eine Gesellschaft, wenn sie nichts mehr riskieren will? Wenn sie wirkliche Ausgrenzungen, wirkliche Machtlosigkeiten und Hilflosigkeiten nicht mehr beim Namen nennt, weil sie ja durch formale Umbenennungen, Sternchen-Machen und wohlmeinendem Beteuern wie von Zauberhand schon bereits als gelöst erscheinen? Während man von Liberalität und Rücksichtnahme redet, feiert man im Grunde, ohne es vielleicht zu merken, den Egozentrismus. Kompromisse sind jedenfalls unbeliebt. Beliebt sind Egozentriker, die einfach machen, was sie wollen, Trump als Vorbild. Und wenn ein junger Mann mit wenig Aufstiegschancen die AfD wählt, dann denke ich vor allem, um zu zeigen, dass er keine Kompromisse nötig hat. Ich bin überzeugt, dass genau hierin der Grund liegt, warum unsere Demokratie, die beste aller bisherigen Herrschaftsformen von Gesellschaft, warum diese Demokratie derzeit so unbeliebt ist: Man kriegt nämlich in der Demokratie nie ganz das, was man eigentlich haben wollte, fast nie sogar kriegt man es. Immer muss man Kompromisse machen. Also spürt man in dieser Demokratie etwas, das man nicht spüren will, nämlich, dass man nie so wichtig ist wie man eigentlich dachte, dass man sich dauernd irgendeiner Mehrheit beugen muss. Kein Wunder, dass man das nicht mag. Und kein Wunder, dass manche es attraktiv finden, wenn einer vorbildhaft egozentrisch sagt, wo es langgeht. Mit andern Worten: Trump-Wähler oder AfD-Fans sind nicht einfach ein bisschen dumm, sondern echte Kinder einer gewachsenen Ego-Kultur und denken in diesem Zeitgeist durchaus konsequent. Die Ironie besteht darin, dass die, die glauben ganz anders zu denken, die nie die AfD oder Ähnliches wählen würden und sich als liberal denkende Menschen verstehen, dass die letztlich demselben Egozentrismus verfangen sind.
Und damit komme ich zu unserem Filmfestival. Die Filme, die wir zeigen, sind nämlich randvoll gefüllt mit genau diesen Fragen. Wenn Sie alle Filme gesehen haben, werden Sie mir zustimmen … vorher dürfen Sie gar nicht mitreden. Aber im ernst: Filme sind immer Produkte des Zeitgeists, sind immer Indikatoren unseres Denkens & Fühlens, spiegeln unsere Welt von außen, aber auch von innen heraus. Sie lügen nicht – und das nicht deshalb, weil sie moralisch so gut sind, sondern weil sie gar nicht lügen können. Sie sind Spiegel unseres Lebens. Deshalb sind sie auch nie nur Objekte der Freizeitgestaltung, auch wenn sie so aussehen. Sie sind im Gegenteil lebendige Beweisstücke der Wahrheiten unseres Daseins. Mit seinen Filmgeschichten erzählt das Filmfestival Wahrheiten unseres Lebens in unserer Gegenwart, macht uns begreifbar, was wichtig ist. Aber anders als in einer Rede, geschieht dies nicht nur rational und zielgerichtet, sondern mit viel Gefühl. In dieser großartigen Mischung aus Vernunft und Gefühl, Verständlichem und nur Fühlbarem entsteht bei Filmen etwas „Atmosphärisch-Wahres“, wie es nur die Filmkunst zustandebringen kann. Man erfühlt die Dinge im Kino, verstehen tut man sie nur halb. Weshalb es nebenbei gesagt, auch nie so wichtig ist, welche Story ein Film erzählt, viel wichtiger ist das Wie des Erzählens, das Mitfühlen der Geschichte. Und dieses Erfühlen gehört uns nicht, wie wir immer denken, allein. Eher geraten wir hinein in einen Film. So wie wir in einen Traum hineingeraten und dabei nie so wir selber sind wie im Wachzustand. Filmkunst ist in sich, von ihrem Wesen her, gemeinschaftlich, wendet sich gar nicht an uns als Einzelnen, sondern meint uns immer als Teil von Gesellschaft. Eher fühlen wir uns entmachtet im Kino als in unserem Selbst-Sein bestätigt. Und der Witz ist: Wir genießen das sehr. Ich behaupte, der weltweite Siegeszug der Kinematografie, in welcher technischen Form auch immer, hat seinen Grund darin, dass er uns die Last des Man-Selbst-Sein-Müssens nimmt, uns mit den Augen von Anderen sehen lässt, uns zeigt, wie sehr wir Wesen sind, die allein gar nicht existieren könnten. Und übrigens auch nicht existieren wollten. Deshalb glaube ich: Niemand kommt zu uns auf die Parkinsel, weil er ganz persönlich endlich mal einen Film sehen will. Das wäre ziemlich absurd, denn Filme kann man mittlerweile überall und jederzeit sehen. Nein, meine Damen und Herren, Sie sind hier, weil Sie 19 Tage lang ihr Dasein als Herdentiere genießen wollen, um es mal biologistisch zu sagen. Oder schöner gesagt: Weil Sie es lieben, sich unsere Geschichten eben nicht daheim allein erzählen zu lassen und lieber ein bisschen versinken wollen in einer Wirklichkeit, die mit dem so weit verbreiteten Egozentrismus ein paar Tage lang sehr wenig zu tun hat. Wir verschaffen uns, ohne es zu wissen, eine Pause genau davon, wollen mal aufatmen und uns in einem Gefühl bestätigen lassen, das uns immer das liebste ist: Dem wunderbaren Gefühl, nicht allein zu sein auf dieser Welt.
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