Kommentar Anwohnerklagen gegen Veranstaltungen: Entwicklung führt zu weit

Wurstmarkt, Filmfestival, Heidelberger Altstadt: Anwohnerklagen sorgen für immer strengere Auflagen. Eine Gesellschaft ohne Geselligkeit hatten wir vor ein paar Jahren schon mal, mahnt Julian Eistetter.

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Julian Eistetter
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Das alles erscheint heute schon wieder so ewig weit weg. Die Zeit, in der keine Konzerte möglich waren, Theater schließen mussten und Feste abgesagt wurden. Fast läuft man Gefahr zu vergessen, wie trostlos das Leben in der Corona-Pandemie ohne kulturelle Veranstaltungen eigentlich war. Eine Gesellschaft ohne Geselligkeit.

Pandemie hat gezeigt, wie schnell sich eine Gesellschaft spalten lässt

Doch nicht nur diese Erkenntnis hat die Pandemie gebracht. Sie hat auch gezeigt, wie schnell sich eine Gesellschaft spalten lässt. Wie schnell aus „Uns“ ein „Wir gegen Die“ wurde. Diese Entwicklung hat sich auch nach Corona nahtlos so fortgesetzt, sich verschärft und wirkt heute fast schon irreversibel.

Dass diese fortschreitende Spaltung in eine Zeit gefallen ist, in der keine Veranstaltungen möglich waren, ist mit Sicherheit kein Zufall. Denn genau diese Ereignisse sind es doch, die das Zusammenleben ausmachen, die eine Gesellschaft zusammenhalten, bei denen sich Menschen an einer gemeinsamen Leidenschaft erfreuen, sich austauschen, auch mal kontrovers diskutieren.

Jede Klage eines genervten Anwohners ist ein kleiner Angriff auf die Gesellschaft, die sich in großer Mehrheit nach solchen Veranstaltungen sehnt.

Für diese Form der Gemeinschaft sollten wir möglichst viele Freiräume schaffen und keine zu engen Grenzen setzen. Jede Klage eines genervten Anwohners gegen das örtliche Straßenfest, das Live-Konzert zwei Grundstücke weiter oder eben ganz aktuell das Filmfestival auf der Parkinsel in Ludwigshafen ist daher ein kleiner Angriff auf die Gesellschaft, die sich in großer Mehrheit nach solchen Veranstaltungen sehnt.

Natürlich, und das sei auch an dieser Stelle deutlich gesagt, gibt es Grenzen. Wenn Nachbarn kein Auge zumachen können, weil bis tief in die Nacht permanent laute Bässe wummern oder grölende Menschen unterwegs sind, wenn sich Kerwebesucher in Vorgärten erleichtern oder ihre Getränkeflaschen dort ablagern, dann haben die Betroffenen natürlich jedes Recht, dagegen vorzugehen.

Die Entwicklung führt inzwischen schlichtweg zu weit

Wenn aber künftig Studenten in der Heidelberger Altstadt am Wochenende nicht länger als 1 Uhr feiern können, wenn Wirte und Veranstalter mancherorts zehnmal gegenrechnen müssen, ob sich ein Betrieb bis 22 Uhr oder bis Mitternacht überhaupt noch lohnt, und wenn dann einige von ihnen zu dem Schluss kommen, dass sie es besser bleiben lassen - dann führt diese Entwicklung schlichtweg zu weit.

Man wird den Eindruck nicht los, dass es einigen mit ihren Klagen einfach nur ums Prinzip geht. Wer Rücksichtnahme erwartet, sollte sich selbst auch mal zurücknehmen können. Oft handelt es sich ja nur um sehr überschaubare Belastungszeiträume. Es würde der Gesellschaft guttun.

Redaktion Reporter Region, Teamleiter Neckar-Bergstraße und Ausbildungsredakteur

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