Mannheiim. Es ist ein Freitagnachmittag im Sommer 2022, kurz vor Feierabend, als Kaya Essadek mit einer der schlimmsten Nachrichten konfrontiert wird, die man einer Frau überbringen kann. Die junge Ärztin, deren Namen wir für diesen Text geändert haben, denkt zunächst noch an einen ganz schlechten Witz ihres Kollegen, aber dessen Miene bleibt ernst und angespannt, als sie ihn im Besprechungszimmer eines Ludwigshafener Krankenhauses ansieht.
Brustkrebs - im Alter von 28 Jahren. Sie hatte sich ihm anvertraut, nachdem sie über Monate Knoten in ihrer Brust getastet hatte, von denen ihre Frauenärztin zuvor behauptet hatte, dass sie keinesfalls bösartig seien, obwohl sie immer öfter auch schmerzten.
Heilung möglich - Kinderwunsch fraglich
Eine Gewebeprobe zeigt schließlich, dass die bisherigen Annahmen falsch waren. Eine Krebsdiagnose am Freitagnachmittag. Was tun? „Ich konnte niemanden erreichen“, erinnert sich Essadek, und ergänzt: „Ich war das ganze Wochenende hilflos.“ Einen für Sonntag gebuchten Flug in die algerische Heimat tritt sie nicht an.
Die Mannheimerin ist eine von jährlich rund 16 000 Erwachsenen, die im Alter zwischen 18. und 39 mit einer solchen Diagnose konfrontiert werden. Die Heilungschancen stehen oft ganz gut, aber die Behandlung mit Chemotherapie und Bestrahlung kann Beeinträchtigungen der Fortpflanzungsfähigkeit zur Folge haben - bei Männern und Frauen. Diese Gefahr realisieren auch Kaya Essadek und ihr Partner, der selbst Arzt ist. Sie wollen Kinder.
Trotz der schockierenden Nachricht beginnt Essadek daher nicht sofort mit der Krebsbekämpfung, die mehrere der oben genannten und zum Teil hochtoxischen Therapien einschließen kann. Im Spätjahr unterzieht sich die Frau, die erst wenige Jahre in Deutschland lebt, zunächst einer Behandlung im Ludwigshafener Kinderwunschzentrum des Ehepaars Claudia und Tobias Schmidt.
Die Reproduktionsmediziner haben Erfahrung mit Patientinnen wie Kaya Essadek. Sie wissen, was in Menschen vorgeht, die mit der Last umgehen müssen, womöglich nie mehr auf natürlichem Wege Eltern werden zu können, weil Keimzellen zerstört und insofern keine intakten Eizellen mehr vorhanden sind. Im Gegensatz zum Mann, in dessen Hoden Samen immer wieder neu produziert werden, sind alle Eizellen einer Frau schon bei ihrer Geburt angelegt. Mit zunehmender Lebenszeit werden sie im Laufe vieler Menstruationsjahre weniger - bis schließlich keine mehr vorhanden sind. Zudem lässt die die Befruchtungsfähigkeit der Eizellen mit zunehmendem Alter nach.
Kryokonservierung
- Fortschritte in der Medizin und in der Onkologie haben eine höhere Überlebensrate bei Krebspatientinnen ermöglicht. Allerdings haben Krebsbehandlungen den Nachteil, dass sie die Fruchtbarkeit beeinträchtigen.
- Frauen, die einer Chemotherapie oder Strahlentherapie ausgesetzt sind, sind über Techniken zur Erhaltung der Fruchtbarkeit mitunter schlecht informiert. Kryokonservierung gibt ihnen die Möglichkeit, Mütter zu werden, wenn der Krebs überwunden ist.
- Die Kosten für die Entnahme, das Einfrieren und das Lagern von Spermien und Eizellen, die sogenannte Kryokonservierung, übernimmt nach neuer Gesetzgebung die Krankenkasse für gesetzlich Versicherte. Dazu zählen auch die Kosten für die Konservierung von Eierstockgewebe.
Um vitale Eizellen für spätere Schwangerschaften zu erhalten, hat sich in der Medizin in den vergangenen Jahren das „Social Freezing“ (wörtlich übersetzt: soziales Einfrieren) durchgesetzt. Frauen entscheiden sich Ärzte-Statistiken zufolge in zunehmendem Maße dafür, wenn sie das Gefühl haben, dass beispielsweise ihr beruflicher Lebensweg nicht von einer Schwangerschaft zum „falschen“ Zeitpunkt unterbrochen werden soll.
Wahrscheinlichkeit sieben Prozent
Dafür lassen Patientinnen, die meist jünger als 30 Jahre sind, mittels hormoneller Unterstützung ihre Eizellen stimulieren. Diese reifen heran und werden dann unbefruchtet in flüssigem Stickstoff eingefroren. „Bei minus 196 Grad“, sagt der Ludwigshafener Gynäkologe Tobias Schmidt, der dafür in der Praxis eine eigene Kryobank betreibt und überwacht. Seine Ehefrau Claudia Schmidt ergänzt: „Social Freezing geschieht viel häufiger, als wir denken“. Zum passenden Zeitpunkt werden die Eizellen dann aufgetaut und mit dem Samen des Partners befruchtet. Die Schwangerschaftswahrscheinlichkeit pro Eizelle liegt im Durchschnitt bei etwa sieben Prozent. Die Mediziner empfehlen das Einfrieren von mindesten 20 Eizellen. Ein Erfolg hängt ganz wesentlich vom Alter der Frau bei der Eizellenentnahme ab.
Tatsache ist aber auch, dass sich diese Behandlung nicht jeder leisten kann. Pro Stimulation und Entnahme fallen Kosten in Höhe von rund 3500 Euro an. Hinzu kommen Kosten für die Lagerung sowie die spätere Befruchtung und Rückgabe. Anders ist das seit einiger Zeit bei Krebspatientinnen und Krebspatienten. Hier hat der Bundestag mit einer neuen Gesetzesregelung dafür gesorgt, dass die Kosten für das sogenannte „Medical Freezing“ übernommen werden. Im August 2022 wurde dieser Beschluss neu beraten und inzwischen können die gesetzlichen Krankenkassen diese Eingriffe einfach abrechnen.
Krankenkasse bezahlt Behandlung
Im Ludwigshafener Kinderwunschzentrum sind seither mehr als ein halbes Dutzend Frauen mit dieser Problematik behandelt worden. Für diese Patientinnen sei es wichtig zu wissen: „Da liegt was im Eis“, sagt Tobias Schmidt. Es sei etwas sehr Sinnvolles, dass der Gesetzgeber so die Perspektive auf Gründung einer eigenen Familie ermöglicht habe, sagt er. „In Amerika sind kürzlich Zwillinge zur Welt gekommen.
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Die Eizellen dafür sind vor 30 Jahren eingefroren worden“, weiß Claudia Schmidt. Kaya Essadek will so lange nicht warten müssen. Für sie war es eine schlimme Vorstellung, keine Kinder haben zu können. Im Kinderwunschzentrum in Heidelberg habe man ihr trotz neuer Regelungen gesagt, dass nur Privatpatientinnen behandelt würden. In Ludwigshafen wurden ihr hingegen rund 30 gesunde Eizellen entnommen. Drei Monate waren das, in denen die Krebstherapie pausierte. Einer sechsstündigen Operation, innerhalb derer ihr das Gewebe in beiden Brüsten mitsamt einem 3,8 Zentimeter großen Tumor entfernt wurde, hatte sie sich schon im Sommer unterzogen.
Sie hofft auf eine „zweite Chance“. Inzwischen sind die Haare der 28-Jährigen ausgefallen. Mutig sitzt sie an jenem Nachmittag vor drei Wochen in einem Mannheimer Kaffee. Warum ich? Diese Frage stellt sich die sportliche Frau, die sich bewusst ernährt, nicht. Sie ist optimistisch. Trotz kraftraubender 24 Chemotherapie-Wochen ist die gebürtige Algerierin zu dem Schluss gekommen, dass sie von Glück reden könne, in Deutschland Krebs zu haben - und somit die Perspektive auf Familie.
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