Ludwigshafen. Im Ernstfall kann Johannes Becker sich um zwei medizinische Notfälle gleichzeitig kümmern - auch wenn die Einsatzorte Dutzende von Kilometern auseinander liegen. Möglich macht’s die digitale Technik. Und dabei muss Becker noch nicht einmal vor Ort sein.
Der Notarzt mit 25 Jahren Berufserfahrung im Rettungsdienst, davon 15 Jahre als Notarzt ist von einem kleinen Büro in der zentralen Notaufnahme der BG Klinik in Ludwigshafen-Oggersheim direkt mit den Rettungssanitätern an der Einsatzstelle verbunden.
Notarzt kommuniziert aus Ludwigshafen per Videoschalte
Auf den vier Bildschirmen vor sich sieht er die EKG- und Blutsauerstoffwerte der Patienten, kann Einblick nehmen in den Medikamentenschrank des Rettungswagens und ist mit den Notfallsanitätern per Videoschalte verbunden, kann dadurch auch mit den Patienten sprechen. Johannes Becker ist Telenotarzt und Verantwortlicher eines Pilotprojekts, das die Notfallversorgung in der Fläche erheblich verbessern soll.
Im vergangenen Juli haben der rheinland-pfälzische Innenminister Michael Ebling, das DRK und das Fraunhofer-Institut für Experimentelles Software Engeneering das Pilotprojekt für die Metropolregion in Ludwigshafen gestartet.
Der Telenotarzt ist unter anderem auch eine Antwort auf den demografischen Wandel und den damit einhergehenden Fachkräftemangel, der auch im medizinischen Bereich grassiert. „Wir müssen mit weniger Zeit und Ärzten eine bessere Qualität liefern“, brachte es Paul Alfred Grützner, der Ärztliche Direktor der BG Klinik zum Start des Projektes im vergangenen Sommer auf den Punkt.
Mittlerweile liegen die ersten Erfahrungswerte vor. 60 Einsätze haben die Telenotärzte an der BG Klinik mit den Rettungskräften vor Ort bereits absolviert. Die Zahl ist noch überschaubar groß. Aber die Einsätze müssen auch funktionieren. Dazu ist eine gründliche Einweisung in die speziellen Abläufe und die Technik nötig. Und das geht eben nicht von jetzt auf gleich, sondern muss im laufenden Rettungs-und Bereitschaftsdienst gestemmt werden.
Unterstützung für Rettungssanitäter durch den Arzt
Im Ernstfall ist es wichtig, dass der Informationsfluss reibungslos und schnell funktioniert. Dazu hat Becker ein Standardverfahren in der Kommunikation entwickelt, damit der Notarzt sich schnell ein Bild von der Lage vor Ort machen kann.
Pilotprojekt Telenotarzt
- Gestartet ist der Telenotarzt im Juli 2023 mit den DRK-Rettungswachen in Mutterstadt, Schifferstadt und Haßloch.
- Seit Januar sind drei Rettungswagen in Neustadt und Lambrecht mit dazugekommen, seit dem 2. April sind auch Bad Dürkheim und Frankenthal mit an Bord.
- „Bis Juni oder Juli wollen wir das DRK in der ganzen Vorderpfalz versorgen können“, nennt Becker als Ziel. Im Sommer soll die Südpfalz mit den Integrierten Leitstellen-Bereichen Landau und Germersheim dazukommen.
- Aktuell ist der Telenotarzt montags bis freitags von 8 bis 16 Uhr einsatzbereit. Besetzt wird die Stelle von erfahrenen Notärzten der BG-Klinik.
- Ziel ist es, mit dem Telenotarzt rund um die Uhr zur Verfügung zu stehen.
Denn er muss im Zweifel schnell entscheiden, ob nicht doch ein Notarzt vor Ort kommen muss, ob die Feuerwehr oder Polizei zur Absicherung alarmiert werden müssen oder ob sich die Situation doch ausschließlich mit den Notfallsanitäterinnen und -sanitäter vor Ort bewältigen lässt.
Telenotarzt soll bei Konflikten mit Patienten vermitteln
„Wir haben auch schon zeigen können, dass das System funktioniert“, freut sich Becker. Man habe bewiesen, dass durch die digitale Zuschaltung des Arztes Ressourcen geschont werden können. Denn nicht selten bindet auch die Diskussion mit Patienten wertvolle Zeit, die an anderer Stelle dann fehlt. In fast der Hälfte der Fälle ging es darum, dass Patienten den Transport ins Krankenhaus verweigerten oder unbedingt einforderten, obwohl es medizinisch nicht notwendig war. So erspare man auch den Notaufnahmen der Krankenhäuser unnötige Arbeit.
Den Patienten über die Folgen seiner Verweigerung aufzuklären, sei ungemein wichtig. Und auch das habe die Praxis gezeigt: „Patienten hören eher auf den Arzt als auf den Nichtarzt.“ In Konfliktsituation könne der Telenotarzt vermitteln und dafür sorgen, dass der Rettungswagen wieder früher einsatzbereit sei.
Notfallsanitäter sind Augen, Ohren und Hände des Notarztes
Keine Probleme bereitet indessen die technische Ausstattung. „Die funktioniert sehr gut“, sagt Becker. Jeden Morgen testet er die Verbindung mit den angeschlossenen Fahrzeugen, die nicht gerade im Einsatz sind. Eine Kollegin aus Haßloch schickt bereits bei der Probeschalte auch schon ohne Aufforderung die Daten des Monitors, auf dem im Ernstfall EKG, Blutdruck und andere wichtige Daten zu sehen sind. Die Abläufe müssen standardisiert sein und klappen, dass dadurch nicht wertvolle Zeit für den Patienten verloren geht.
Auch die Zusammenarbeit mit den Sanitätern vor Ort hat eine ganz neue Qualität bekommen. „Da entsteht eine sehr spannende Dynamik“, findet der leitende Oberarzt der Klinik für interdisziplinäre Rettungs- und Notfallmedizin an der BG Klinik. Man kommuniziere ganz anders, intensiver.
Schließlich sind die Notfallsanitäter Augen, Ohren und Hände des Notarztes vor Ort. „Da verschwinden die Hierarchien sehr schnell. Beide Seiten sind ja viel mehr aufeinander angewiesen“, sagt Becker zufrieden. Und die Notfallsanitäter bekommen dadurch mehr Möglichkeiten, dürfen mit Abstimmung des Notarztes beispielsweise höhere Dosierungen von Schmerzmitteln verabreichen oder überhaupt Medikamente geben, die ansonsten für sie tabu sind.
Auch können sie bei Unklarheiten eine medizinische Zweitmeinung einholen. Das taten die Notfallsanitäter unter anderem auch bei einem 14-jährigen Jungen, der rasende Kopfschmerzen bekam und plötzlich nichts mehr sah. „Die Frage war: In die lokale Kinderklinik oder 40 Minuten Fahrt und in die höher qualifizierte Uniklinik?“, erinnert sich Becker. Denn es war nicht klar, ob der Junge trotz seines Alters zum Beispiel eine Hirnblutung erlitten haben könnte. Weil sie das nicht ausschließen konnten, meldete Becker den Jungen in der Mannheimer Universitätsmedizin an. Letztlich stellte sich heraus, dass der Junge an einer sehr seltenen Form der Migräne litt. Ein spannender Fall mit einer sehr spezifischen Fragestellung, in dem man zusammen eine mögliche Diagnose erarbeitet habe, so Becker.
URL dieses Artikels:
https://www.mannheimer-morgen.de/metropolregion_artikel,-metropolregion-der-notarzt-kommt-jetzt-auch-digital-aus-der-bg-klinik-ludwigshafen-_arid,2193459.html
Mannheimer Morgen Plus-Artikel Kommentar Wir wollen, dass Sie sich in der digitalen Welt zurechtfinden