Frau Kühn, es ist drei Jahre her, dass SARS-CoV-2 hier angekommen ist. Können Sie sich an den ersten Fall erinnern?
Anne Kühn: Ja, sehr gut. Ich habe damals den Kinder- und Jugendgesundheitsdienst geleitet. Ich hatte mit Infektionsschutz nur am Rande zu tun. Ich stand vor einer Woche Skiurlaub mit meiner Familie. Ich kam in dieses Zimmer, in dem wir jetzt sitzen. Ich fragte meinen Vorgänger, ob ich ihn unterstützen könne. Er sagte: ,Ja, wenn es geht, dann sag’ den Urlaub ab. Wir brauchen jetzt hier alle.’ Mein Mann und meine Kinder sind dann alleine in den Skiurlaub gefahren, und ich habe die Kontakte des Mannes nachverfolgt, der als erster Fall hier bekannt wurde. Er hatte sich im Rahmen einer Skifreizeit angesteckt. Der Klassiker.
Ist die Pandemie jetzt vorüber?
Kühn: Sie ist in eine Endemie übergegangen, aber jemand, den ich gut kenne, sagt immer, Endemie heißt nicht Ende.
Wie hat Corona Ihre Arbeit verändert - und gibt es das berühmte Fax noch?
Kühn: Corona hat bei uns alle Digitalisierungsprozesse massiv beschleunigt. Wir haben noch ein Fax, aber das ging schon vor der Pandemie auf ein elektronisches Mailpostfach.
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Gesundheitsämter galten vor Corona nicht als Mittelpunkt einer Verwaltung. Welche Lehren haben Sie für ihre Arbeit gezogen?
Kühn: Im öffentlichen Gesundheitsdienst wurde grundsätzlich sehr lange gespart. Nun hat man festgestellt, dass der Bereich schlagkräftig sein muss. Wir hatten in Heidelberg mal das blaue Wasser, als wir sehr schnell sehr viele Leute mobilisieren mussten. Das war damals nur ein lokales Thema. Die Pandemie hat uns global gezeigt, dass wir eine schnelle Reaktionsfähigkeit brauchen.
Mit wie vielen Leuten haben Sie Kontakte nachverfolgt?
Kühn: Wir hatten bis zu 300 Köpfe, die hier zusätzlich gearbeitet haben, und haben inzwischen das Festpersonal deutlich aufgestockt.
Haben Sie sich an manchen Tagen alleine gelassen gefühlt - von denen da oben?
Ich habe häufig das Gefühl gehabt, dass kritische Stimmen sehr viel mehr Raum bekommen haben als unterstützende Stimmen
Kühn: Die Kommunikation mit den übergeordneten Behörden war oft sehr abrupt. Neue Verordnungen sind teilweise freitagnachts mit Inkrafttreten samstagmorgens verkündet worden. Da fühlt man sich natürlich alleine gelassen. Ich weiß ja, dass dann das Telefon klingelt und die Menschen mich fragen, was das jetzt für sie heißt. Zum Glück sind wir da gut von Juristen hier im Haus unterstützt worden.
Nehmen Sie uns in Ihren persönlichen Arbeitsalltag während der Pandemie mit. Wie viele Stunden haben Sie da gearbeitet?
Kühn: Ich habe während Corona sieben Tage pro Woche gearbeitet. Manchmal zwölf bis 14 Stunden.
Sie haben auch Kinder!
Kühn: Ich habe zwei Kinder. Zu Beginn der Pandemie waren sie vier und sechs Jahre alt.
Wie haben Sie das geschafft?
Kühn: Es gibt mehrere Ansprechpartner - meine Eltern, mein Mann. Als mein Sohn im vergangenen Sommer eingeschult wurde, ist mir klar geworden, dass ich von seinen vergangenen drei Jahren quasi nichts mitbekommen habe.
Die Pandemie in Zahlen
- Die Anzahl der bekannt gewordenen Corona-Infektionen im Rhein-Neckar-Kreis lag zum Stichtag 21. März bei 357 615.
- Der Rhein-Neckar-Kreis hat in diversen Impfzentren 661 900 Impfdosen unterschiedlicher Herkunft verabreicht. Nicht enthalten sind solche Impfdosen, die von niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten verabreicht wurden.
- Die Anzahl der Todesfälle im Zusammenhang mit Corona gibt der Rhein-Neckar-Kreis mit 1115 an.
- Um Infektionsketten nachzuverfolgen, hat der Rhein-Neckar-Kreis im Gesundheitsamt zeitweise 300 zusätzliche Köpfe auf 150 Vollzeitstellen beschäftigt.
- Das Gesundheitsamt hat das Festpersonal seither aufgestockt.
Wollten Sie mal hinschmeißen?
Kühn: Nein.
Verfolgen Sie Coronafälle noch?
Kühn: Nein. Wir beraten nur noch bei Ausbruchsgeschehen innerhalb vulnerabler Gruppen.
Die Gesellschaft - das spürt man in Gesprächen - will diese Zeit aufarbeiten. Waren wir schlecht vorbereitet?
Kühn: Ich glaube, auf eine solche Pandemie ist man immer schlecht vorbereitet. Unsere Pläne basierten noch auf den Pocken-Plänen. Viele Entscheidungen, die am Anfang getroffen wurden, waren - nachdem man mehr über den Erreger gelernt hat - nicht die richtigen. Die Einschätzung, was eine enge Kontaktperson ist, hat sich über die Zeit verändert. Was im Landkreis gut war, war, dass wir Netzwerke hatten, die wir aktivieren konnten. Mit Altenpflegeheimen, mit Kliniken. Wir saßen in den Runden schon vorher zusammen und kannten uns. Wir sprachen dann eben über Corona - und das hat ausgezeichnet funktioniert.
Haben Sie über Allgemein- verfügungen auch mal den Kopf geschüttelt?
Kühn: Manchmal war es für mich nicht nachvollziehbar, was als erstes geschlossen wird und was noch länger geöffnet bleiben darf.
Schulen und Kitas zu schließen war also falsch?
Kühn: Das Problem ist, dass wir in der Rückschau vieles besser wissen. Wir sehen jetzt, dass die Schließungen Langzeitfolgen haben. Ich meine Änderungen im Sozialverhalten, Gewichtszunahme und die psychischen Folgen. Das ist etwas, das man jetzt rückblickend in die Überlegungen einbezieht.
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Sie sehen viele Kinder jetzt bei Einschulungsuntersuchungen. Was stellen Sie da fest?
Kühn: Dass wir sehr viel mehr auffällige Kinder haben.
Was sind das für Auffälligkeiten?
Kühn: Ganz häufig sind es neben ausgebliebener Förderung bewegungsmotorische Sachen, weil Kinder zum Beispiel mehr Medienzeit hatten und nicht draußen waren.
Wenn Sie jetzt auf die Arbeit der Medien blicken: Was haben wir falsch gemacht?
Kühn: Ich hätte mir manchmal sicherlich einen anderen Fokus gewünscht. Ich habe häufig das Gefühl gehabt, dass kritische Stimmen sehr viel mehr Raum bekommen haben als unterstützende Stimmen. Das, was ich in den Zeitungen gelesen habe, hat oft nicht meine persönliche Erfahrung abgebildet. Da hätte ich mir mehr Ausgewogenheit gewünscht.
Eine kritische Stimme kam aus Sinsheim und hieß Bodo Schiffmann. Hatten Sie Kontakt?
Kühn: Ich habe zu Personen, die man zu Corona-Leugnern zählen könnte, viel Kontakt gehabt. Durch meine Medienpräsenz war ich hier ein Gesicht der Pandemie.
Kam es zu Eskalationen?
Kühn: Es gab persönliche Beleidigungen. Das Schlimmste war, dass mir jemand gewünscht hat, dass ich und meine Kinder schwerste Erkrankungen bekommen. Mit Herrn Schiffmann hatte ich nur einmal telefonischen Kontakt. Das war ein sachliches Gespräch.
Haben wir die möglichen Folgen einer Impfung zu klein geredet? Auch wir mussten über Fälle berichten, in denen es zu Impfreaktionen gekommen ist.
Kühn: Ich habe das nie so wahrgenommen, dass wir gesagt haben, die Impfungen haben keine Nebenwirkungen. Wir hätten medizinisch besser kommunizieren müssen, dass die Corona-Impfung zu den Impfungen mit vergleichsweise wenigen Risiken gehört. Auch eine Influenza-Impfung hat Risiken und Nebenwirkungen, aber eben nicht so stark wie eine Tollwut-Impfung. Viele Folgen sind erst in der großen Zahl der Anwendung bekannt geworden. Man hat erst in der breiten Anwendung festgestellt, dass manche der Impfstoffe bei bestimmten Personengruppen ein höheres Risiko für bestimmte Nebenwirkungen haben, die für die Betroffenen sehr ernst sind und dass man für diese Personengruppen diese Impfstoffe nicht mehr empfehlen sollte. Man muss aber auch sagen, dass wir in sehr kurzer Zeit sehr viele Menschen geimpft haben. Das heißt, dass sich auch sehr seltene Nebenwirkungen zeigen konnten. Ein ähnliches Phänomen haben wir jetzt mit Long Covid. Das sehen wir nach Infektionen und - deutlich seltener - aber auch nach Impfungen. Ein solches Fatigue-Syndrom gibt es auch nach anderen viralen Erkrankungen. Wir hatten nur in den letzten Jahrzehnten keine ähnlich große Erkrankungswelle. Aber ja: Wir hatten auch einen Mitarbeiter, der nach einer Impfung eine Herzmuskelentzündung bekommen hat.
Gibt es ein persönliches Fazit der Pandemie?
Kühn: Eine grundsätzliche Kritik, die ich üben würde, wäre meine Ernüchterung darüber, wie wenig solidarisch unsere Gesellschaft tatsächlich in vielen Bereichen ist.
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