Speyer. Hatte der Missbrauch im Bistum Speyer eine feste Struktur, vielleicht sogar System? Diese Frage stellt sich, nachdem ein Missbrauchsopfer aus einem katholischen Kinderheim nahe des Doms über hundertfachen Missbrauch berichtete – verübt durch einen hochrangigen Geistlichen. In diesem Licht erscheinen nun auch Fälle im wenige Kilometer entfernten Dudenhofen neu, die vor einigen Jahren öffentlich wurden, aber damals kaum wahrgenommen wurden.
Zu welcher Zeit genau die Fragen des Geistlichen nach den ersten Samenergüssen und der exakten Länge des jeweiligen Geschlechtsteils begonnen haben, ist heute nur noch schwer nachzuvollziehen. Wahrscheinlich waren die beiden Messdiener, von deren Schicksal dieser Text erzählt, etwa 12 oder 13 Jahre jung. Und folgt man den Worten, die Rainer Schulz (Name von der Redaktion geändert) im Jahr 2021 aus dem Gedächtnis formt, dann war ihr Peiniger in den Augen der dörflichen Gesellschaft weiß Gott kein übler Kerl. Im Gegenteil: Der Pfarrer der kleinen Speyerer Nachbargemeinde Dudenhofen galt im Ort als ein leutseliger Mensch, der im Alter von etwa Mitte 40 mit dem festen Vorsatz in der Gemeinde tätig war, seine Anhänger für den Glauben an den Auferstandenen zu begeistern und den Kirchenchor darin zu schulen, das sonntägliche Gloria auf den Herrn möglichst unfallfrei zu intonieren. Doch nicht nur das.
Buch über Penislänge geführt
Neben seiner seelsorgerischen Aufgabe – das weiß man rund 45 Jahre nach den hier beschriebenen Geschehnissen – kümmerte sich der Geistliche, der 1930 geboren und im Jahr 2012 im nordpfälzischen Tiefenthal begraben wurde, wohl in übergriffiger Weise auch um körperliche Belange der ihm anvertrauten Kinder. Eigenhändig legte er seinerzeit das Maßband an. Wie Jens Müller (auch dieser Name ist von der Redaktion geändert) schon im Jahr 2004 gegenüber „Spiegel Online“ erzählte, beschränkte sich der fromme Mann schon nach einigen Monaten des Kennenlernens nicht mehr auf anzügliche Fragen.
Penibel habe der Pfarrer demnach irgendwann begonnen, mit gespitztem Griffel Buch zu führen – über Brust- und Oberschenkelumfang seiner Schützlinge, über Lungenvolumen und Körpergröße – und nicht zuletzt über das Wachstum von Müllers Penis. Mehrere Male habe er ihm die Hosen geöffnet und nach der Schambehaarung geschaut. Geblieben ist es dabei nicht, wie Müller erstmals im Jahr 2003 öffentlich preisgab. Persönlich wiederholen möchte er die Erzählung nicht mehr. Für seine sehr katholische Familie sei die Zeit nicht einfach gewesen. lässt er über Rainer Schulz ausrichten, mit dem er bis heute befreundet ist.
Wir schreiben die 70er Jahre. Wenige Kilometer weiter – das scheint nach den neuesten Veröffentlichungen klar – vergeht sich in diesen Jahren auch ein hochrangiger Geistlicher am Bistumssitz in Speyer an jungen Bewohnern des Kinderheims Engelsgasse. Wahrscheinlich Hunderte Male vergewaltigt Prälat Rudolf Motzenbäcker mindestens eines seiner Opfer, wie der amtierende Bischof Karl-Heinz Wiesemann Anfang Dezember in einem Interview mit der eigenen Bistumszeitung eingestehen muss.
Der sexuelle Missbrauch – er hat offenbar System in jener Zeit, in der sich eine junge Generation von Studenten gerade erstmals befreit hat vom noch preußisch geprägten Obrigkeitsdenken im Nachkriegsdeutschland. Wer aber damals als Messdiener in den Sakristeien der katholischen Kirche Dienst tat, der konnte das Patriarchat förmlich mit Händen greifen. Im Bistum Speyer regiert Friedrich Kardinal Wetter als Bischof. Was in den Jahren seiner Amtszeit unweit seiner Kathedrale passierte – davon will er heute nichts geahnt haben, wie er Mitte Dezember aus einem Münchner Seniorenheim auf Anfrage verlauten ließ. Auch als 1987 Papst Johannes Paul II. den Speyerer Dom besucht, spricht niemand über Missbrauch.
Ahungsloser Kardinal?
„Schweinepriester“ – in der Rückschau findet Rainer Schulz keinen anderen Begriff für seinen Dudenhofener Pfarrer. Schulz erinnert sich an ihn als eine zunächst joviale Gestalt. Eines sonntags habe ihn der Priester daheim abgeholt, um ihn mit in den Pfälzerwald zu einer Wanderung zu nehmen. Konkret begrapscht worden sei er an diesem Tag von ihm nicht. „Ich gehörte nicht zu seinen Lieblingen“, sagt Schulz in der Rückschau, aber die Situation, als ihn der Mann im Pfarrhaus danach gefragt habe, ob er schon eine Erektion gehabt habe, denn immerhin sei dies bei anderen Messdienern schon der Fall gewesen, sei ihm jetzt als höchst unangenehm im Gedächtnis. Weniger befremdlich sei ihm damals gewesen, dass der Priester mit ihnen Aufklärungsbücher angesehen oder bei Freizeiten die nackten Beine der Jungs gestreichelt habe. Es waren wohl nicht nur diese Bilder im Kopf, sondern auch zunehmende Berichte über sexuelle Missbräuche in der katholischen Kirche, die Jens Müller im Herbst 2003 ins 50 Kilometer entfernte Wernersberg in der Westpfalz fahren ließen – mehr als 24 Jahre, nachdem ihm der Priester die Hose geöffnet und seinen Penis in die Hand genommen hatte, um sich selbst zu befriedigen.
Wie Müller gegenüber „Spiegel Online“ erzählt hat, habe er Herzklopfen gehabt, als er vor der Tür seines inzwischen 73-jährigen früheren Pfarrers stand. Dieser habe die Tür geöffnet, ihn zunächst nicht erkannt, ihn dann aber hereingebeten. Müller lehnte ab. Er habe den Pfarrer gefragt, was dieser sich gedacht habe, als er die vielen kleinen Jungs angefasst habe. Der Pfarrer habe geantwortet: „Ich war ja nur daran interessiert, dass ihr euch gut entwickelt.“ Müller ging damit ab die Öffentlichkeit. „Spiegel Online“ schickte einen Reporter zum Pfarrer. „Man macht Dummheiten“, wird dieser dort zitiert, spricht aber dann „von Versagen, von Schuld und von ewiger Reue.“ Er sei dem Mysterium inequatis, dem Geheimnis der Bosheit, ausgeliefert gewesen.
Fürbitten für den Täter?
Für Rainer Schulz, der eher wegen der Gemeinschaft als wegen seines Glaubens Mitte der 70er Messdiener geworden war, beginnt ab diesem Zeitpunkt ein Prozess der weiteren Distanzierung von einer Kirche. Nachdem er und sein Leidensgenosse sich 2003 an das Bistum wendeten, tat sich – quasi nichts. Der damalige Domkapitular Norbert Weis habe sich telefonisch dafür entschuldigt, was ihnen widerfahren sei. Die Vorfälle seien indes verjährt. Der Fall sei der Glaubenskongregation in Rom übermittelt worden. Dem Pfarrer sei inzwischen eine Buße auferlegt worden: Er dürfe mit Kindern und Jugendlichen nur noch im Beisein Dritter Kontakt haben. Ohnehin sei der Pfarrer in einem „Alter, in dem das sexuelle Bestreben zum Erliegen kommt“.
Gestorben ist der einstige Prieser aus Dudenhofen im Jahr 2012. Doch vergessen hat ihn seine katholische Kirche nicht. Im liturgischen Kalender des Jahres 2021 taucht der Verstorbene am 30. Juli wieder auf. Das ist ein Freitag. Nicht ausgeschlossen, dass seine Name dann wieder zum Gedenken genannt wird und er in die Fürbitten seiner Gemeinde eingeschlossen wird. Nur an die Opfer – an die denkt dann niemand.
Wie das Bistum heute mit solchen Fällen umgeht
- Würden solche Fälle im Jahr 2021 bekannt, so wäre der Umgang des Bistums damit ein anderer, sagt Pressesprecher Markus Herr.
- So würden heute die Betroffenen in den Mittelpunkt gestellt. Ihr Leid würde anerkannt – auch materiell. Heute gehe es dem Bistum um die Schaffung von Transparenz und die klare Haltung, dass den Betroffenen Glauben geschenkt wird.
- Die Herangehensweise sieht die direkte und persönliche Einladung zu einem Gespräch mit dem Bischof sowie das Angebot zu Vermittlung von psychologischer Hilfe mit Übernahme der Kosten vor.
- Betroffene erhalten das Angebot finanzieller Leistungen. Auch damit will das Bistum das Leid der Missbrauchten anerkennen.
- Betroffene werden zur Mitwirkung im Betroffenbeirat des Bistums eingeladen.
- Einen zentralen Platz, so der Pressesprecher, nimmt die Prävention ein. Dazu gebe es eigens Beauftragte und eine Strategie.
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