Rhein-Neckar/Bautzen. Tristes Grau, defekte Dächer, bröckelnde Fassaden: Die Nässe hat ihre Spuren ins marode Mauerwerk gezeichnet. Der Delegation aus Worms bietet sich ein Bild des Verfalls. Unter der Leitung von Oberbürgermeister Gernot Fischer ist der gesamte Stadtvorstand im März 1990 in die Lausitz gereist – jenseits von Dresden über Holperstrecken, die jeden Auto-Stoßdämpfer harten Prüfungen unterziehen. Die Gruppe will erste offizielle Kontakte für eine Städtepartnerschaft knüpfen.
Die Reise ist erfolgreich: Im Juni und Oktober des Einheitsjahres 1990 werden die Urkunden unterzeichnet. Doch Worms bleibt nicht die einzige westdeutsche Partnerstadt. Auch Heidelberg knüpft freundschaftliche Bande in die Lausitz: Ein Jahr später wird auch diese Verbindung aktenkundig. Damit ist Bautzen die einzige ostdeutsche Stadt mit zwei Partnerkommunen in Westdeutschland. Und beide liegen in der Metropolregion.
Worms will schon Mitte der 1980-er Jahre eine Partnerschaft mit einer ostdeutschen Kommune knüpfen. Im Auge haben die Wormser eine Lutherstadt wie Wittenberg oder Eisenach. Das wäre ein verbindendes Element. Doch für das DDR-Regime ist das eine unbotmäßige Glaubensfrage. Es teilt Worms die Stadt Bautzen zu. Die Begeisterung in Worms hält sich in Grenzen. Steht doch die Stadt vor allem für den berüchtigten Stasi-Knast . Dann kommt die Wende – und die Möglichkeit, Land und Leute persönlich kennenzulernen.
Die Nibelungenstädter erhalten einen herzlichen Empfang. Die Vertreter von CDU, SPD, DSU, Neuem Forum, NDPD und Demokratischem Aufbruch sprechen sich einmütig für die Verbindung aus. Die Bautzener wollen das Konstrukt lieber „Patenschaft“ als „Partnerschaft“ nennen, weil sie glauben, mit der am Boden liegenden Stadt nichts zurückgeben zu können. Dem widerspricht Oberbürgermeister Fischer vehement. Er will Begegnungen auf Augenhöhe und nicht als Besser-Wessi daherkommen. Schließlich habe Bautzen kulturell und menschlich Wertvolles zu bieten. Die Stadt ist das Zentrum der Sorben, einer slawischen Volksgruppe, und gilt wegen ihrer mittelalterlichen Architektur als „Nürnberg des Ostens“.
Nahezu zeitgleich, ebenfalls im Januar 1990, starten Gerhard Schäfer, Karlheinz Lösch und Andreas Horn vom Heidelberger Stadtjugendring in Richtung Osten. Sie wollen Kontakte knüpfen für einen Jugendaustausch: Im Blick haben sie die Städte Pirna, Freiberg und Bautzen. Den Bautzener Bürgermeister treffen sie beim Spontan-Besuch direkt an der Rathaus-Tür. Er stellt die Verbindungen zur Sportabteilung im Rathaus her. Das hemdsärmelige Angebot der Heidelberger: Die Bautzener in den florierenden Jugendaustausch mit Cambridge und Montpellier aufzunehmen.
500 000 Mark jährlich
Nach ihrer Rückkehr holt sich das Trio für seinen eigenmächtigen Ausflug einen kräftigen Anpfiff bei Oberbürgermeister Reinhold Zundel ab. Doch die Bilder von der verfallenden Altstadt bringen beim Verwaltungschef eine Saite zum Klingen. Schließlich hat er selbst Erfahrung in der Altstadt-Sanierung. Er schlägt den Fraktionen ein umfassendes Hilfspaket für Bautzen vor. Und tatsächlich stimmt der Gemeinderat einer jährlichen Unterstützung von 500 000 Mark zu. Lastwagen voller Dachziegel fahren in die sächsische Stadt. Auch die Verwaltung der Lausitz-Stadt bekommt Hilfe. Gerhard Wagner wird für mehrere Jahre abgeordnet, um eine Verwaltung nach westlicher Prägung aufzubauen.
„Es waren mit Worms und Heidelberg immer Begegnungen auf Augenhöhe“, bilanziert Christian Schramm, erster freigewählter Bürgermeister, der die Geschicke Bautzens 25 Jahre lang mitbestimmt hat. Der Christdemokrat, der in der friedlichen Revolution über das Neue Forum zur Politik fand, erinnert sich gut an seinen ersten Besuch in Heidelberg. „Ich habe mich gar nicht getraut, das Rathaus zu betreten“, erzählt er.
Die Partnerschaften mit Worms und Heidelberg seien wichtige Hilfen gewesen. Sie seien die Öffnung zur großen weiten Welt gewesen. „Was für Heidelberg selbstverständlich war, war für uns unbegreiflich.“ Sie hätten auch wirtschaftliche Kontakte und private Freundschaften begründet, die bis heute halten. Am 14. Oktober wird eine Wormser Reisegruppe wieder nach Bautzen starten. Geleitet wird sie von Klaus Martin, dem Vorsitzenden des Wormser Freundschaftskreises und Motor der Partnerschaft von Anfang an.
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