Unter allen Bekenntnissen dieser Welt dürfte eines mit weitem Abstand die Charts anführen: das Lippenbekenntnis, das eben die Schnittstelle vom Wort, also der reinen Theorie, zur praktischen Handlung nie überschreitet. Landauf, landab hört man es – auch in der Bildungspolitik. Zum einen wissen und sagen alle einigermaßen intelligenten Menschen in unserem Land, dass Bildung, Wissenschaft und Kultur nun mal die einzigen Rohstoffe sind, die Deutschland überhaupt noch zu bieten hat. Zum anderen wird an Lehrpersonal gespart und mit dem achtjährigen Gymnasium ein Turboabitur eingeführt, wo doch jedem klar sein muss, dass in neun Jahren mehr gelernt werden kann als in acht.
Wenn nun der Stellvertretende Landeskirchenmusikdirektor der Badischen Landeskirche beklagt, dass unsere Gesellschaft zu viel „den kommerziellen Aspekten der Spaßgesellschaft“ opfere, ist das nur allzu verständlich. Den Chören geht es am Anfang der (hoffentlich) postcoronalen Ära nicht gut. Viele Klangkörper sind längst verschwunden, und die, die überlebt haben, singen in halb leeren Kirchen. Die Situation ist desaströs.
Wie desaströs sie ist, zeigt, dass selbst groß angelegte Aktionen für die Chöre im Land kaum Anklang finden. Der Deutsche Chorverband mit seinem prominenten Vorsitzenden und Ex-Bundespräsidenten Christian Wulff hat das Jahr 2022 zum „Jahr der Chöre“ ausgerufen. Dabei handelt es sich um eine bundesweite Initiative, mit der der Verband „öffentlich und kulturpolitisch auf die Anliegen der Chorszene aufmerksam machen“ möchte. Das Problem: 2022 ist „Chorjahr“ – und keiner geht hin.
Es sollte geworben werden, dass die Chöre im ganzen Land und auf allen Ebenen Unterstützung erfahren – in den Kommunen, den Landesregierungen und auf Bundesebene, durch private Förderer und Freunde der Chormusik. Alle sollten daran mitwirken, die Zukunft der Chöre zu sichern: „durch öffentliches Engagement, kulturpolitische Lobbyarbeit, Spendenaktionen und mehr“, wie es der Chorverband selbst zum Ausdruck bringt.
Man kann sicher nicht alles der Politik in die Schuhe schieben. Und die Chorlandschaft, die weitgehend ja kirchlich geprägt ist, hat es mit Missbrauchsskandalen, latentem Glaubensverfall und Kirchenaustritten gegenwärtig ganz gewiss nicht leicht. Doch ein Kirchenchor ist mehr als ein Chor in einer Kirche. Er ist eine kulturelle und mehr noch soziale Instanz, die unser aller Unterstützung verdient – und die der Politik allemal, und bitte, bitte: ohne das beliebteste Bekenntnis. Siehe oben.
Mannheimer Morgen Plus-Artikel Kommentar Warum die Chöre im Land jede und jeden von uns brauchen
2022 sollte das "Jahr der Chöre" werden. Doch viele Chöre sind während der Corona-Zeit verschwunden, und die, die noch da sind, singen vor halb leeren Kirchen. Alarmierend, wie der stellvertretende Landeskirchenmusikdirektor Johannes Michel findet. Er fordert eine Bildungsoffensive