Mannheim. Die frühere Auswahlturnerin Kim Bui schreckte nicht davor zurück, bei der Schilderung der Missstände im deutschen Turnen besonders klare und aufschreckende Worte zu finden. Die 36-Jährige beschrieb das Machtgefälle zwischen Trainern und Athletinnen, das jahrelang im Deutschen Turner-Bund geherrscht haben soll, als „System der Angst“. System der Angst – diese drei Worte muss man sich auf der Zunge zergehen lassen: Natürlich ist der Leistungssport kein Ponyhof. Um das Letzte aus den Athleten herauszukitzeln, bedarf es ab und zu einer deutlichen Ansprache. Doch es gibt Grenzen; Grenzen, die ganz offensichtlich überschritten wurden.
Trainer und Athletinnen müssen nicht die besten Freunde sein. Ein vergiftetes Verhältnis ist in einem Sport, in dem es gerade beim Einstudieren von riskanten Übungen auf Vertrauen ankommt, aber nicht leistungsfördernd. Mehr noch: Einige Trainer haben bei ihren Schutzbefohlenen wohl sowohl physische als auch seelische Langzeit-Schäden billigend in Kauf genommen. Einige ehemalige Ausnahmeturnerinnen leiden noch heute unter Essstörungen. Wie soll auch ein gesundes Verhältnis zur Nahrungsaufnahme gewonnen werden, wenn du ständig zu hören bekommst, nicht dein Potenzial ausschöpfen und können, weil du zu dick und zu schwer bist?
Elisabeth Seitz hat auch heute noch Probleme mit ihrem Gewicht
Elisabeth Seitz gab im Beitrag der ARD-Sportschau zu, immer noch Probleme mit ihrem Gewicht zu haben. Als es darum ging, sich mit einem Koffer auf die Waage zu stellen, um sicherzustellen, dass das Gepäckstück nicht die für den Flug maximal zugelassenen 23 Kilogramm überschritten hat, konnte sie das einfach nicht. Das erklärte sie mit Tränen in den Augen und stockender Stimme. Seitz ist die erfolgreichste deutsche Turnerin des vergangenen Jahrzehnts. Doch um welchen Preis hat sich die Altlußheimerin in die Weltspitze gekämpft?
Nach dem Stuttgarter Kunstturnforum ist spätestens nach den Aussagen von Seitz auch Mannheim in den Fokus gerückt, wo die in die Kritik geratene Claudia Schunk bis 2017 Cheftrainerin war. Mit der Umsetzung eines sportpsychologischen Konzepts hat die TG Mannheim, die Trägerin des Bundesstützpunkts ist, frühzeitig die richtigen Konsequenzen gezogen. Es mag sein, dass heute in der Turnhalle ein anderes Klima herrscht. Das ändert nichts daran, dass eine Aufarbeitung der Vorfälle, die einige Jahre zurückliegen, dringend Not tut.
Joachim Fichtner, der Leiter des Mannheimer Bundesstützpunkts, wünscht sich ein transparentes Vorgehen. Nach den ersten Schritten, die der Deutsche Turner-Bund veranlasst hat, mag man daran Zweifel bekommen. Seitz betonte, den Verband schon 2014 über die Missstände in Kenntnis gesetzt zu haben. Was ist passiert? Nichts.
Insofern ist es nachvollziehbar, dass einige schon nicht mehr an die Selbstreinigungskräfte des DTB glauben. Auch Fichtner fordert, eine unabhängige Kommission mit der Untersuchung der Vorwürfe zu betrauen. Nur der Blick von außen stellt sicher, dass die Richtigen zur Verantwortung gezogen werden. Dann kann der Blick in die Vergangenheit tatsächlich zu einer Chance für die Zukunft werden.
URL dieses Artikels:
https://www.mannheimer-morgen.de/meinung/kommentare_artikel,-kommentar-unabhaengige-kommission-fuer-aufklaerung-im-turnen-gefordert-_arid,2283900.html
Mannheimer Morgen Plus-Artikel Kommentar Unabhängige Kommission für Aufklärung im Turnen gefordert
Massive Missbrauchsvorwürfe haben das deutsche Turnen erschüttert. Eine unabhängige Kommission muss die Vorwürfe untersuchen, fordert Christian Rotter.