Nach nunmehr neun Monaten Corona wächst die Ungeduld; viele halten so ein reduziertes Leben nicht mehr aus. Psychisch nicht und wirtschaftlich nicht. Doch am Mittwoch wird erst einmal eine noch härtere Zeit verkündet werden. Das Virus ist erbarmungslos. Es kennt keine menschlichen Sehnsüchte, im Gegenteil, es lebt von ihnen, was sich wahrscheinlich auch wieder nach der minimalen Weihnachtsamnestie zeigen wird, die es geben soll. Jeder Kontakt ist für die Krankheit eine neue Verbreitungschance.
In diese unerträgliche Situation platzen hoffnungsfrohe Meldungen, dass immer mehr Hersteller wirksame Impfstoffe entwickelt haben, und dass man die Schutzinjektionen schon sehr bald verabreichen wird. Bereits ab Dezember. Doch weiß man auch, dass es mindestens ein halbes Jahr dauern wird, bis 60 oder 70 Prozent der Bevölkerung durchgeimpft sind, so dass die Epidemie dann in sich zusammenfällt und Entwarnung gegeben werden kann. Dieses halbe Jahr ist die gefährlichste Zeit für den Infektionsschutz.
Nicht wegen der Impfgegner: Ihre Zahl wird beschränkt bleiben, wenn der Wirkstoff keine Nebenwirkungen zeigt. Eher wird es sogar einen Run auf das Vakzin geben. Denn viele Menschen werden sich so schnell wie möglich schützen wollen. Das eigentliche Problem wird sein, dass es eine Gleichzeitigkeit geben wird von Impfung und Teil-Lockdown. Das eine beginnt, das andere ist noch da. Je mehr Leute geimpft werden, umso mehr wird die Disziplin sinken. Bei den Geimpften, die die Einschränkungen überhaupt nicht mehr einsehen werden, sich aber trotzdem daran halten müssen. Und die Nicht-Geimpften werden sagen: Wieso Einschränkungen, dagegen gibt es doch eine Impfung!
Es droht eine anarchische Phase. Einen Impfausweis wird es nicht geben, zu Recht nicht. Es würde – abgesehen von Fälschungen – nur Neid und Hass produzieren, wenn die einen mit dem Papier in der Hand feiern und reisen dürfen, während die anderen noch mit Maske herumlaufen und Abstand halten müssen. Diese Monate werden für die Regierenden vor allem eine kommunikative Herausforderung. Sie müssen die verbleibenden Maßnahmen noch sorgsamer begründen als bisher. Und ihre Appelle an Verstand und Vernunft noch mehr verstärken.
Und sie werden in dieser Übergangszeit noch härter auf die Einhaltung der Regeln bestehen müssen, denn sonst gibt es kein Halten mehr. Wie Schiffbrüchige ertrinken, weil sie im Angesicht des rettenden Schiffes zu früh von ihrem Floß springen, so könnte es manchem im kommenden halben Jahr ergehen. Das Virus ist weiter hoch ansteckend, für ein bis zwei Prozent der Infizierten tödlich, und es wartet nur auf die Undisziplinierten. Es wäre sehr tragisch, wenn Menschen leiden müssten, nur weil die Gesellschaft ihre bis dahin bravouröse Geduld ein paar Monate zu früh aufgeben würde.
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Mannheimer Morgen Plus-Artikel Werner Kolhoff - warnt davor, dass die in Aussicht stehenden Impfungen gegen das Coronavirus zu leichtsinnigem Verhalten führen könnten Kritische Phase
Werner Kolhoff warnt davor, dass die in Aussicht stehenden Impfungen gegen das Coronavirus zu leichtsinnigem Verhalten führen könnten