Kommentar In der Corona-Pandemie ist es fünf nach zwölf

Veröffentlicht
Kommentar von
Miriam Hollstein
Lesedauer

In „Die Kunst, Recht zu behalten“, einem Klassiker der Rhetorik von 1830, beschreibt der Philosoph Arthur Schopenhauer die Tatsache, dass es in vielen Streitgesprächen nicht um den Sieg der Wahrheit geht, sondern um den Sieg der eigenen Haltung.

Sehr anschaulich lässt sich dieses Prinzip derzeit in der Politik beobachten. Die Ampel-Parteien wollen die Feststellung der epidemischen Notlage am 25. November auslaufen lassen. Es ist ein Versprechen, das sie gegeben haben und an dem sie jetzt - allen voran die FDP - um jeden Preis festhalten wollen.

Wir erinnern uns: Die „epidemische Lage von nationaler Tragweite“ wurde erstmals im März 2020 festgestellt und seither regelmäßig durch den Bundestag verlängert. Es ist ein schwieriger Begriff, da er der Regierung ohne genaue Definition eine Reihe von Sonderbefugnissen gewährt.

Mehr zum Thema

Pandemie

Corona-Regeln: Was kommt, was nicht

Veröffentlicht
Von
Julia Emmrich
Mehr erfahren
Umfrage

Union baut Vorsprung im Politbarometer aus

Veröffentlicht
Von
Walter Serif
Mehr erfahren

So kann sie Reisebeschränkungen ohne Zustimmung des Bundesrates verhängen. Auch bundesweite Ausgangssperren und ein Lockdown sind auf dieser Grundlage möglich. Das bedeutet eine massive Einschränkung der Grundrechte. Im Infektionsschutzgesetz ist deshalb festgehalten, dass der Ausnahmezustand „unverzüglich“ aufgehoben werden muss, wenn die Voraussetzungen nicht mehr vorliegen.

Nun konnte man im Sommer tatsächlich diesen Eindruck gewinnen. Die Ansteckungszahlen waren niedrig, ein „dynamisches Infektionsgeschehen“ nicht mehr erkennbar. Verständlich also, dass die FDP der Verlängerung nicht mehr zustimmen wollte.

Doch inzwischen hat sich die Lage geändert - und zwar dramatisch. Die Zahl der Neuinfektionen und die Sieben-Tage-Inzidenz sind so hoch wie noch nie in dieser Pandemie. Nicht dringend notwendige Operationen werden wieder verschoben, die Betten auf den Intensivstationen werden wieder knapp.

Angesichts dieser Situation ist das Argument, dass inzwischen doch viele geimpft sind, Augenwischerei. Denn die Impfquote reicht nicht aus, um Herdenimmunität herzustellen. Sie reicht nicht einmal aus, um im Winter ein funktionierendes Gesundheitssystem Winter zu garantieren.

Auch fast zwei Jahre nach Beginn der Pandemie hat mancher immer noch nicht begriffen, was exponentielles Wachstum bedeutet und dass wir die Konsequenzen der heutigen Infektionszahlen erst in zwei, drei Wochen in den Krankenhäusern sehen werden.

Inzwischen dämmert auch den Ampel-Parteien, dass ihr Maßnahmenpaket nicht ausreichen wird, um Deutschland „winterfest“ (Olaf Scholz) zu machen. Hektisch wird nun nachgebessert - so soll es zusätzliche Instrumente für die Länder geben. Ausgangssperren, Reiseverbote sowie Schulschließungen sollen aber weiter ausgeschlossen bleiben.

„Es ist fünf nach zwölf“ - mit diesen Worten hat RKI-Chef Lothar Wieler die Situation beschrieben. Die vierte Welle könnte die schlimmste werden, wenn jetzt nicht schnell und konsequent ein Weg gefunden wird, den massiven Anstieg von Neuinfektionen zu stoppen. Dazu sollte man kein Instrument ausschließen.

38 Kunstgriffe hat Schopenhauer in seinem Rhetorik-Klassiker beschrieben, wie man recht behalten kann, selbst wenn man nicht recht hat. Hoffen wir für dieses Land und unser aller Gesundheit, dass die Ampel-Parteien nicht alle ausprobieren, bevor sie in der epidemischen Realität ankommen.

Autor