Mannheim. Deutschland leistet sich mit dem Bundestag das weltweit zweitgrößte Parlament nach dem chinesischen Volkskongress. Demokratie – die es in Peking selbstredend nicht gibt – darf natürlich auch viel Geld kosten. Aber selbst im Bundestag sitzen inzwischen viele Parlamentarier, die möglicherweise selbst fest an ihrem Stuhl kleben, aber nichts dagegen hätten, wenn die Zahl der Kolleginnen und Kollegen insgesamt sinken würde.
Dieses schizophrene Denken steckt hinter dem Problem. Seit Jahren wollen die Parteien den Bundestag verkleinern, in dem gegenwärtig 736 Abgeordnete sitzen, obwohl die „gesetzliche Mindestgröße“ bei 598 liegt. Dabei müsste das kein Ding der Unmöglichkeit sein, denn der Grund für den XXL-Bundestag ist bekannt: Es sind die vielen Überhang- und Ausgleichsmandate, die das Parlament aufgebläht haben.
Die Ampelkoalition will jetzt mit einem ziemlich radikalen Gesetzentwurf zwei Spielregeln ändern, die bisher die Bundestagswahlen geprägt haben. Der Sieger durfte in der Vergangenheit immer sein Direktmandat behalten, weshalb jeder Wahlkreis wenigstens einen Ansprechpartner für die Bürgerinnen und Bürger hat.
Auf Basis des Bundestagswahlergebnisses von 2021 würde rund jeder zehnte Wahlkreissieger sein Mandat verlieren und fünf der 299 Wahlkreise wären verwaist. Die Härtefälle blieben also eher die Ausnahme als die Regel. Dennoch laufen die Unionsparteien Sturm, obwohl zum Beispiel die SPD viel mehr Direktmandate als die CDU verlieren würde. Das Problem ist die CSU, denn sie hat ja bei der Bundestagswahl 2021 in Bayern fast alle Direktmandate gewonnen und poltert deshalb besonders gegen das Ampel-Modell ab.
Das mag egoistisch sein, ist aber nicht verboten. Was aber überhaupt nicht geht, ist die Art und Weise der Kritik der Hardliner aus Bayern. Man kann es leider nicht anders ausdrücken: Die CSU dreht teilweise völlig durch. Ihr Generalsekretär Martin Huber spricht in Richtung Ampel von einer „organisierten Wahlfälschung“, wie sie sonst in „Schurkenstaaten“ üblich sei. Donald Trump und Jair Bolsonaro lassen grüßen.
Der Vorwurf von Huber & Co. ist auch aus einem anderen Grund perfide. Denn Bayern ist das einzige Bundesland, in dem Direktkandidaten nicht in den Landtag einziehen dürfen, wenn ihre (kleine) Partei an der Fünf-Prozent-Klausel scheitert. Die CSU verweigert also den bajuwarischen Underdogs die Chancengleichheit, will aber selbst auf keine Pfründe und Privilegien im Bundestag verzichten. Grotesk.
Der tumbe Furor der Christsozialen ist in Wahrheit ein Ablenkungsmanöver. Denn die CSU profitiert am meisten vom bisherigen Wahlsystem. Dieses macht es möglich, dass sie von Wahl zu Wahl bei den Zweitstimmen schlechter abschneidet, aber dennoch durch die vielen Direktmandate in Berlin eine feste Größe bleibt.
Das hat natürlich auch Auswirkungen auf ihre Politik im Bund. Da die CSU-Abgeordneten im Gegensatz zu den meisten Kollegen der anderen Parteien nicht auf die Zweitstimmen schauen müssen, können sie in der Bundeshauptstadt eine knallharte Klientelpolitik nach dem Motto „Bayern zuerst!“ betreiben. Das ist Gift für die Demokratie, weil auch Direktmandate ihren Preis haben. Jeder, der in seinem Wahlkreis gewinnen will, muss den Leuten aufs Maul schauen, er sollte ihnen aber nicht nach dem Mund reden.
Der Vorteil einer Mixtur aus Mehrheits- und Verhältniswahl ist, dass es Raum für den Dialog mit den Menschen lässt und dafür sorgt, dass die Abgeordneten nicht abheben. Der Sozialdemokrat Kurt Beck hat seinen Politikstil ja mal als „nah bei de Leut“ bezeichnet. Es kommt deshalb bei der Reform auf die Balance an. Die Union sollte sich auf die Ampel zubewegen.
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Mannheimer Morgen Plus-Artikel Kommentar Im Bundestag sitzen zu viele Politiker
Die Ampelkoalition will den Bundestag verkleinern, unser Kommentator Walter Serif begrüßt die Pläne zur Wahlrechtsreform und rät den Unionsparteien zur Kompromissbereitschaft