Mannheim/Berlin. Der Bundestag platzt inzwischen aus allen Nähten. 27 blaue Stühle der legendären Marke „Figura“ mussten die Mitarbeiter nach der Wahl 2021 anschrauben, um genügend Platz für die nunmehr 736 Abgeordneten zu schaffen. Alle Fraktionen sind sich inzwischen einig, dass im Parlament zu viele sitzen.
Das liebe Geld spielt dabei natürlich auch eine Rolle, weshalb nicht nur der Bund der Steuerzahler eine Verkleinerung des „XXL-Bundestags“ verlangt, dessen „gesetzliche Mindestzahl“ nur 598 beträgt.
Politikwissenschaftler Thomas Gschwend von der Universität Mannheim stört dagegen etwas anderes: „Die Volksparteien verlieren immer mehr Stimmen, werden für ihre Niederlagen aber nicht bestraft, weil es inzwischen so viele Überhang- und Ausgleichsmandate gibt, weshalb der Bundestag immer größer wird.“
Verwaiste Wahlkreise möglich
Warum ist das aber so? Bei der Bundestagswahl wird die Hälfte der Mandate direkt in den 299 Wahlkreisen vergeben, die andere über die Landeslisten. Allerdings dürfen die Parteien alle Direktmandate (Erststimme) behalten, selbst wenn sie dadurch mehr Sitze erhalten als ihnen nach dem Zweitstimmenergebnis zustehen würde.
Besonders krass fällt dieser Effekt bei der CSU aus. Sie holte 2021 immerhin 45 der 46 Direktmandate in Bayern, obwohl sie bei den Zweitstimmen nur noch auf 31,5 Prozent kam. Weil so viele Überhangmandate das Wahlergebnis verfälschen würden, werden Ausgleichsmandate an die anderen Parteien verteilt.
Deutllich weniger Mandate
Die Ampelkoalition will jetzt das Wahlrecht reformieren, sie hat einen Gesetzentwurf vorgelegt, der an diesem Freitag im Bundestag beraten wird. Gschwend gefällt der Vorschlag: „Die Logik ist klar. Die Ampel will die Zahl der Mandate wieder auf 598 begrenzen und die Zahl der Wahlkreise mit 299 unverändert lassen. Das geht aber nur, wenn nicht jedes Direktmandat zählt, das ist nicht schön, aber alles andere wäre die Quadratur des Kreises.“
Der Vorteil: Es werden keine Überhang- und Ausgleichsmandate mehr vergeben, dafür ist der Sieg eines Direktkandidaten nichts wert, wenn sein Ergebnis zu schlecht ist. Und im Extremfall gibt es sogar verwaiste Wahlkreise ohne Bundestagsabgeordnete.
Wer wäre nicht mehr dabei?
Die „Zeit“ hat in einer Analyse aufgelistet, wen es im aktuellen Bundestag getroffen hätte, wenn das Ampel-Modell schon in der vergangenen Legislaturperiode verabschiedet worden wäre. Von den knapp zwei Dutzend Parlamentariern in der Region zwischen Tauberbischofsheim, Heidelberg, Ludwigshafen, Mannheim, Weinheim und der Bergstraße wären vier Politikerinnen und Politiker draußen, darunter auch zwei mit einem Direktmandat.
In Mannheim hätte es für Melis Sekmen (Grüne) und Konrad Stockmeier (FDP) nicht gereicht. Im Wahlkreis Rhein-Neckar wäre der Gewinner des Direktmandats Moritz Oppelt (CDU) der Leidtragende. Das gilt auch für seinen Parteifreund Olav Gutting, mit dem Unterschied, dass dann der Wahlkreis Bruchsal-Schwetzingen völlig blank wäre. „Das ist natürlich nicht ideal“, sagt Gschwend.
Dass ein Direktkandidat sein Mandat nicht wahrnimmt, komme immer wieder vor, sagt der Politikwissenschaftler. Zum Beispiel, wenn ein Abgeordneter krank ist oder aus der Partei austritt und sein Mandat aufgibt wie Nikolas Löbel aus Mannheim. In solchen Fällen rückt ein Listenkandidat nach.
Bangen um den Wiedereinzug
Gleichwohl ist auch in der Ampel das Reform-Modell umstritten. Der Liberale Stockmeier verteidigt es: „Wenn 736 Abgeordnete nur an ihre Wiederwahl denken, wird das nichts.“ Natürlich hofft er nach eigenen Angaben, dass sein Engagement für den Wiedereinzug auch in einen kleineren Bundestag reicht.
Sekmens Position ist dagegen zwiespältig: Sie kritisiert zwar auch die gegenwärtig hohen Kosten und hält „die Arbeits- und Funktionsfähigkeit des Parlaments für gefährdet“. Probleme hat Sekmen aber mit dem „Wegfall von Direktmandaten, die die Stimmen der Menschen in den Wahlkreisen darstellen“.
Verstoßen Ampelpläne gegen das Grundgesetz?
Damit rennt sie natürlich offene Türen bei der Union ein. Gutting: „Wer immer wieder mit klarer Mehrheit seinen Wahlkreis gewinnt, sollte in einer Demokratie nicht über die Legitimation grübeln müssen.“ Nach seinen Angaben hat er sich auch ganz bewusst nie auf einer Parteiliste absichern lassen. „Das Direktmandat ist für mich die Königsdisziplin.“
Auffällig ist allerdings, dass Gutting bei den vergangenen Wahlen anteilsmäßig immer weniger Erststimmen bekam. 2013 waren es noch 51,8 Prozent, acht Jahre später nur noch 29,6 Prozent. Das erklärt auch, warum es ihn beim Ampel-Modell erwischen würde. „Die Direktmandate würden in den sehr umkämpften Wahlkreisen wegfallen, in denen der Sieger verhältnismäßig viel weniger Stimmen bekommt als zum Beispiel in Cloppenburg und Ravensburg“, erklärt Gschwend.
CDU-Politiker Oppelt bezweifelt allerdings, dass das mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Er sieht Verstöße gegen den Grundsatz der Gleichheit, der Unmittelbarkeit der Wahl und des Demokratieprinzips. Das will Geschwend so nicht stehen lassen: „Die USA haben ein Mehrheitswahlrecht, Israel ein Verhältniswahlrecht und wir ein gemischtes Wahlsystem. Da kann man nicht einfach sagen, das Direktmandat zählt mehr als ein Listenmandat.“
Warnung vor dem „Super-GAU“
CDU und CSU setzen auf eigenes Konzept
Die Union hat allerdings auch Vorschläge parat. Oppelt kann sich eine Reduzierung der Wahlkreise vorstellen. „Dann wird es aber weiter Überhangmandate geben, von denen die Union ja am meisten profitiert“, sagt Gschwend. Auch die Tatsache, dass die Union 15 Direktmandate nicht ausgleichen will, hält er für durchsichtig. „Das wäre für die Union von Vorteil“, kritisiert Gschwend. Das gilt nach seiner Ansicht auch für das „Grabenwahlrecht“, das Gutting ins Spiel bringt.
Nach diesem Modell würde die eine Hälfte der Abgeordneten nach dem Mehrheits-, die andere per Verhältniswahlrecht bestimmt. Die Direktmandate würden überhaupt nicht mehr ausgeglichen. „Damit ließe sich zwar der Bundestag auf die Sollstärke von 598 begrenzen. Es könnte aber dann auch der Super-GAU eintreten: Eine Bundesregierung, die bei den Zweitstimmen keine absolute Mehrheit hätte“, sagt Gschwend.
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Mannheimer Morgen Plus-Artikel Kommentar Im Bundestag sitzen zu viele Politiker