Wer in unserer Gesellschaft nicht lesen oder schreiben kann, wird meist abgestempelt. Dabei sagt Analphabetismus gar nichts über die Intelligenz eines Menschen aus. Vielmehr sind Menschen betroffen, die schwere Schicksalsschläge erleiden mussten, die den Anschluss verpasst haben oder in unserem für sie fremden Land einfach nie richtig Fuß fassen konnten.
In Mannheim, so schätzen Experten, leben rund 30 000 Analphabeten. Wegen der besonderen Sozialstruktur, der vielen Menschen mit Migrationshintergrund, könnte die Dunkelziffer jedoch sogar noch viel höher sein. Denn die Betroffenen schämen sich, suchen selten von sich aus Hilfe. Manche trauen sich nicht einmal, einkaufen zu gehen, weil sie nicht lesen können, was auf der Verpackung steht. Auch Fahrpläne oder Bedienungsanleitungen sind für diese Menschen eine oft unüberwindbare Hürde. Die meisten versuchen vielmehr, mit einem ausgeklügelten System ihr Problem zu verstecken. Haben beispielsweise nie einen Stift oder ihre Brille dabei, sind plötzlich an Hand oder Arm verletzt, wenn Dokumente ausgefüllt werden müssen, oder bestellen in Restaurants stets zuletzt - und immer „das Gleiche“.
Zum Weltalphabetisierungstag der Unesco am 8. September rückt auch die Mannheimer Abendakademie die Betroffenen regelmäßig in den Vordergrund. Deren Lage hat sich in den vergangenen Monaten dramatisch verschärft: Denn durch die Corona-Pandemie konnten viele Kurse des Grundbildungszentrums in den vergangenen zweieinhalb Jahren nur unter erschwerten Bedingungen stattfinden. Nun sind es die immer weiter steigenden Kosten - beispielsweise für Lebensmittel oder Gas - die diese Menschen weiter ans Existenzminimum treiben. Denn viele Analphabeten verdienen ohnehin wenig, wurden durch Lockdowns und Kurzarbeit in den zurückliegenden zweieinhalb Jahren beruflich hin- und hergeschoben. Zu den finanziellen Problemen sind bei zahlreichen Betroffenen längst auch gesundheitliche und psychische Probleme gekommen.
Das Grundbildungszentrum hilft mit vielen Kursen und Projekten, bringt auch Angebote in die Stadtteile. Obwohl das wichtig und richtig ist, reicht es nicht. Auch dieser Text hilft Betroffenen nicht direkt - sie können ihn schlichtweg nicht lesen. Deshalb sind wir alle gefragt: Familienangehörige, Freunde, Arbeitskollegen oder Bekannte aus dem Sportverein. Erzählen Sie ganz beiläufig von den Angeboten, die es gibt. Sonst sind Betroffene ein Leben lang abgehängt.
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Mannheimer Morgen Plus-Artikel Kommentar Hilfe für Analphabeten - Wir alle sind gefragt
Immer am 8. September findet der Welltag des Analphabetismus statt. Auch in Mannheim gibt es viele Betroffene. Eva Baumgartner findet, dass bei der Hilfe für Analphabeten alle gefragt sind