So etwas hat es in der – mit 18 Ausgaben zugegebenermaßen kurzen – Geschichte des Deutschen Buchpreises noch nicht gegeben. Auch bei den Verleihungen anderer deutscher Literaturpreise geht es ja in der Regel eher getragen zu. Da war die Dankes-Performance von Kim de l’Horizon im Frankfurter Römer schon ein spezielles Erlebnis. In ein paar Minuten verblüffte dieser nonbinäre Mensch mit anrührenden Grüßen an die Mama auf Schweizerdeutsch, einer erstaunlichen Gesangseinlage und einem Kahlschlag. Diese Rasur erinnerte entfernt an Rainald Goetz’ Lesung 1983 beim Ingeborg-Bachmann-Preis in Klagenfurt. Die beendete der Popliterat vor laufenden Kameras blutüberströmt, nachdem er sich mit einer Rasierklinge die Stirn aufgeritzt hatte.
De l’Horizons Auftritt geriet weniger drastisch und eigentlich nicht mal verblüffend. Wie im ausgezeichneten Debütroman „Blutbuch“ war im Kaisersaal des Römers schnell klar, dass bei dieser Danksagung alles passieren kann. Was passierte, war in vielerlei Hinsicht ein Kunststück: Es wirkte extrem anrührend und kalkuliert zugleich, so authentisch wie selbstinszeniert. Paradox.
Besonders eindrucksvoll: Wie die Selbstrasur auf offener Bühne einen Bogen schlug vom inspirierenden Kampf der Frauen im Iran zur Unterdrückung nonbinärer Identitäten überall, war virtuos. Zumal dabei auch ein sehr bedenkenswerter, viel zu wenig zitierter Satz fällt: Die Kraft der Iranerinnen zeige uns, „wie dumm unser Weltbild war, dass wir dachten, Weiblichkeit ist nur im Westen emanzipiert.“ Kim de l’Horizon erzwingt so fast den Perspektivwechsel, genau wie mit seinem ausgezeichneten Romandebüt. Das ist, wie auch die Buchpreis-Jury anmerkt, mindestens eine Herausforderung. Aber die ist richtig, wichtig und zeitgemäß.
So wirkt es fast verwunderlich, dass viele die Entscheidung für „Blutbuch“ als mutig empfinden. Hanya Yanagihara wurde mit einem ähnlichen Stoff in „Ein wenig Leben“ schon 2016 zur Bestseller-Autorin. Generell sind Kulturszenen viel früher sensibel für gesellschaftliche Veränderungen, so dass Diversität vielerorts seit Jahren Pflichtprogramm ist. Nicht nur bei mehr oder weniger hippen Bühnenschaffenden, sondern längst auch bei Mainstream-Produkten von Marvels Superhelden-Blockbustern bis zur neuen „Herr der Ringe“-Serie. So betritt l’Horizon als paradoxes Wunderwesen mit Star-Appeal die große Bühne, das ganz oben auf der diversen Mainstream-Welle surft und trotzdem künstlerisch gegen den Strom schwimmt.
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Mannheimer Morgen Plus-Artikel Gegen und mit dem Strom
Jörg-Peter Klotz zur Buchpreis-Vergabe an Kim de l’Horizon