Der Tag der Deutschen Einheit ist kein Datum, das den Deutschen die Herzen erwärmt. Ein für politische Verhältnisse kurzfristig für den 3. Oktober 1990 festgelegter Vollzug eines Verwaltungsaktes markiert seit 30 Jahren den Neuanfang einer einst zerrissenen Nation. Ein historischer Tag ohne adäquates, flankierendes Lebensgefühl. Muss das die Deutschen grämen? Nicht unbedingt. Können wir den Feiertag vernachlässigen? Auf keinen Fall.
In diesem Jubiläumsjahr der Einheit lädt der 3. Oktober mehr als je zuvor zum Erinnern und vor allem zum Nachdenken ein. Die Pandemie zwingt die Deutschen in die Verlängerung des gesellschaftlichen Stresstests. Es kristallisieren sich Gewinner und Verlierer heraus – und die Gewissheit, dass die Rückkehr zur alten Normalität in weite Ferne gerückt ist. Der Umbruch ins Ungewisse verlangt allen Disziplin und Nervenstärke ab. Es ist die Zeit der Mutigen und der Improvisationstalente.
Die Ostdeutschen können dem Rest der Republik einiges über Mut und Improvisationstalent erzählen. Millionen von ihnen blicken in diesen Tagen zurück auf eine Zeit dramatischer biografischer Zäsuren. Die verklärende Schönheit des Begriffs Wiedervereinigung kaschiert, dass die DDR der Bundesrepublik am 3. Oktober 1990 formal beitrat und die Westdeutschen dafür keine umwälzenden Anpassungsleistungen erbringen mussten. Die Ostdeutschen dagegen fanden sich von dem einen auf den anderen Tag in einem neuen Staat, einem neuen System wieder. Dass sich viele von ihnen bis heute wie Bürger zweiter Klasse fühlen, sollte niemanden erstaunen. Von gleichwertigen Lebensverhältnissen, strukturell wie wirtschaftlich, kann keine Rede sein. Dass BASF und Tesla nun in Brandenburg investieren, ist daher auch ein politisches Zeichen. Der Osten muss aufholen.
Eine aktuelle Umfrage der Bertelsmann-Stiftung offenbart zwischen Rügen und Erzgebirge eine tiefe Enttäuschung über die vergangenen drei gesamtdeutschen Jahrzehnte. 85 Prozent der älteren Ostdeutschen über 55 Jahren wünschen sich mehr Anerkennung für die friedliche Revolution, die zur Wende führte. 83 Prozent der befragten Ostdeutschen fühlen sich unfair behandelt seit der Wiedervereinigung. Ihr Wunsch nach einer gemeinsamen Gesellschaft mit den Westdeutschen sei vielfach nicht erfüllt worden. In der Erfüllung dieses Wunsches liegt auch die Aufgabe des 3. Oktobers. Den Ostdeutschen besser zuzuhören, wäre ein Anfang. Damit aus dem Feiertag eines Tages auch ein feierlicher Tag wird.
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Mannheimer Morgen Plus-Artikel Einheit Die Zeit der Mutigen
Karsten Kammholz über 30 Jahre Deutsche Einheit