Der Spruch „Ich habe Netflix leer geguckt“ war in der Pandemie groß in Mode. Praktisch umsetzen kann das nur, wer einen Tag mit mehr als 24 Stunden zur Verfügung hat und keinen Schlaf braucht. Außerdem gibt’s ja noch die Konkurrenz des kommerziellen Marktführers: Amazon Prime, Sky Q, MagentaTV, die expandierenden Disney+, Apple TV und Paramount sowie diverse öffentlich-rechtliche Mediatheken plus Joyn oder RTL+. Kein Wunder, dass das Angebot inflationär wirkt.
Und zumindest bei mir hat sich im Serienbereich eine gewisse Ermüdung eingestellt. Die führt bei aller Qualität dazu, dass ich oft mitten in der zweiten oder dritten Folge abschalte. Trotz Top-Schauspielerinnen und -Schauspielern, Regie-Stars, origineller Drehbücher und einer Ausstattung, die jeden „Tatort“ wie Schülertheater auf VHS-Kassette aussehen lässt.
Extreme sind ausgereizt
Ein Grund mag sein, dass die Extreme ausgereizt sind – inhaltlich, emotional und auch in Sachen Qualität. Man ahnt: Es kann nicht viel besser werden, als die ersten Staffeln der „Sopranos“, von „Game Of Thrones“, „True Detective“, „The Walking Dead“ (TWD), „Big Little Lies“, „Breaking Bad“, „Mad Men“, „Vikings“, „Peaky Blinders“, „Downton Abbey“, „The Crown“, „Haus des Geldes“, „Stranger Things“, „This Is Us“ und, und, und . . .
Ein zweiter Grund erinnert an die Fehler der Musikindustrie, die nach den Erfolgen von Neuer Deutschen Welle oder Hip-Hop den Markt bis zum Exzess überflutet haben. Allein, was 2022 an Fantasy-Serien auf den Markt kam, vieles davon fast gleichzeitig ... nahezu unüberschaubar. Für eine „Herr der Ringe“-Serie hätte man vor „Game Of Thrones“ viel gegeben, jetzt muss sich Amazon überwiegend Gemäkel an bleischweren Dialogen und zu diversen Zwergen anhören. Oder die totgerittene Zombie-Welle: Zu Hochzeiten 2014 bis 2016 erreichte „TWD“ allein im US-TV mehr als 17 Millionen Zusehende – wie es 2022 mit der guten elften Staffel zu Ende ging, wollten im Schnitt keine 1,7 Millionen mehr sehen. Oder die Inflation von Marvel- und „Star Wars“-Inhalten. Niemand wünscht sich die Zeiten zurück, als es drei bis 16 Jahre dauerte, bis George Lucas einen neuen Film seiner Weltraum-Saga produzierte. Aber braucht man gefühlt monatlich so viel „Star Wars“-Minuten wie in den gesamten 1980er Jahren? Wenn das Außergewöhnliche alltäglich wird, macht es weniger Spaß.
Überraschungen, die Hoffnung machen
Aber es gibt trotzdem immer wieder Überraschungen, die Hoffnung machen: Dass ausgerechnet ein Spin-Off des uralten Horror-Klamauks „The Addams Family“ Teenager und Erwachsene gleichmäßig fesselt, als ginge es um Harry Potter – da kann Netflix dem Bildzauberer Tim Burton nicht genug danken für „Wednesday“, die erfolgreichste Streaming-Serie des Jahres. Dass „Stranger Things“ nach der abstrusen dritten Staffel wieder an alte Klasse anknüpfen konnte, ist ein gutes Zeichen.
Hoffentlich auch für „True Detective“, das nach zwei völlig missratenen Saisons tatsächlich Jodie Foster ins Rennen schickt, um an das fabelhafte Debüt anzuknüpfen. Viele weitere Topstars feiern 2023 ihre persönlichen Debüts in der schönen Serienwelt – in einem Spektrum von Arnold Schwarzenegger bis Meryl Streep. Das macht zumindest neugierig. Und wenn die Kreativen die Vorteile der Serien auf der langen Erzählstrecke bei der Charakterentwicklung oder der Umsetzung epischer Stoffe nutzen, wird es doch wieder schwer mit dem Ab- oder Umschalten.
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Mannheimer Morgen Plus-Artikel Kommentar Die Serienflut geht 2023 weiter - ist das zu viel des Guten?
Auch Kulturredakteur Jörg-Peter Klotz schaltet häufiger ermüdet ab beim Überangebot an Fantasy und "Star Wars"-Inhalten. Hoffnung machen ihm Jodie Foster, Mery Streep - und Arnold Schwarzenegger