Ich kann mich gut an den Moment erinnern, als ich in einem Coaching das erste Mal auf ein Schultrauma gestoßen bin. Der Coaching-Klient (Coachee), Vorstand eines großen Versicherungskonzerns, wollte an seinem Lampenfieber arbeiten. Als er durch die Tür kam, dachte ich: „Was für ein eloquenter, selbstbewusster Typ!“ Er war mir auf Anhieb sympathisch. Doch nur wenige Minuten später war aus dem smarten Boss ein Häufchen Elend geworden. Er schilderte mir, wie sehr ihn sein Lampenfieber quälte. Es bestand nicht nur aus ein wenig Herzrasen, sondern entwickelte sich regelmäßig zu ausgewachsenen Panikattacken. Immer dann, wenn er im Kreis seiner Vorstandskollegen oder vor dem Aufsichtsrat etwas präsentieren musste, öffneten sich in seinem Körper alle Schweißdrüsen.
Im Coaching kamen wir an die ursprüngliche, sprich auslösende Situation heran - an ein Schultrauma: Mein Coachee musste sich damals immer wieder durch eine Gruppenübung namens „Rechenkönig“ quälen. Dabei wurden alle Kinder aufgefordert, sich hinzustellen, und wer am schnellsten eine Kopfrechenaufgabe gelöst hatte, durfte sich wieder setzen. Dann kam die nächste Aufgabe. Mein Coachee war als Kind keine Leuchte in Mathe, daher sah das Ergebnis regelmäßig so aus: Alle Kinder saßen - nur er stand noch und wurde ausgelacht.
Vierzig Jahre später reagierte sein Körper noch immer mit extremen Stress-Symptomen, wenn alle Zuhörer saßen und er allein vor einer Gruppe stand. Dass es eine Verbindung zu der Rechenaufgabe von damals gab, überraschte ihn, er schaltete dann aber gleich in eine Art Manager-Modus um und präsentierte mir seine Lösung, indem er vorschlug, er könne ja fortan seine Präsentationen im Sitzen halten. Und das funktionierte - ohne Panikattacke, ohne Herzklopfen und ohne einen einzigen Schweißtropfen. Wir haben das Schultrauma dann noch aufgearbeitet.
In meiner Profession als Coachin ist mir aufgefallen, dass sehr viele Probleme und Blockaden, die Menschen in ihrem Leben behindern und die sie dazu bewegen, sich Unterstützung in Form eines Coachings zu holen, ihren Ursprung in der Schulzeit haben. Im Ranking ganz oben: Lampenfieber und/oder Präsentationsangst; die Angst, vor einer Gruppe zu versagen; die Angst, von einer Autoritätsperson vorgeführt zu werden; mangelndes Selbstvertrauen. Ich habe mich dazu mit Coaching-Kolleginnen ausgetauscht und komme zu folgendem Ergebnis: Vierzig bis fünfzig Prozent aller Coaching-Themen haben ihren Ursprung in einem Schultrauma. Zu den auslösenden Momenten zählen etwa Mobbing, Demütigungen durch Lehrer, Notendruck in der Familie, Ohnmachtsgefühle in der Gruppe. Und sie hinterlassen ganz unterschiedliche Spuren.
Auffallend dabei ist, dass viele Menschen, die sich sehr wohl eines Schultraumas bewusst sind, nicht nach Unterstützung suchen. Sie wählen eher den Weg der Vermeidung, beispielsweise wechseln sie das Thema, wenn sich das Gespräch um das Thema Schule dreht. Oder sie wählen Ausflüchte, um bloß nicht eine Schule betreten zu müssen, gehen nicht zu Elternabenden.
Mindestens genauso groß ist die Gruppe derer, die überhaupt nicht wissen, dass sie ein Schultrauma haben. Sie buchen ein Coaching, weil irgendwo der Schuh drückt, weil sie Konflikte haben, Karriereträume geplatzt sind, Unsicherheiten auftauchen oder sie unzufrieden mit sich selbst und/oder ihrem Leben sind. Dass die Ursachen für diese Schwierigkeiten in der Schulzeit zu finden sein könnten, auf die Idee kommen die wenigsten.
Als Coachin ist es mein Anliegen, intensive Reflexionsprozesse anzustoßen, damit möglichst viele Menschen die Ursache für belastende Gefühle und innere Blockaden, die ihr Leben heute noch beschweren, erkennen können. In meinem Buch geht es auch um die Frage, ob sich Schultraumata überhaupt vermeiden lassen. Und ob der wahre Grund, warum Eltern zu sogenannten „Helikopter-Eltern“ werden, möglicherweise in ihrer eigenen belasteten Schulzeit liegt, die verdrängt worden ist und sich heute in dem Anspruch äußert, die eigenen Kinder vor negativen Erfahrungen bewahren zu wollen.
Ein Trauma ist weder eine Krankheit noch eine Störung. Ein Trauma ist immer unverschuldet, und dass man es hat, liegt auch nicht daran, dass man zu schwach war, um mit einer oder mehreren belastenden Situationen umzugehen. Vielmehr handelt es sich bei einem Trauma um eine innere Verletzung, die durch lähmende Furcht und Gefühle von Hilflosigkeit entstanden ist, ohne dass der oder die Betroffene danach gefragt oder irgendetwas dazu beigetragen hätte.
Während der Recherche für mein Buch bin ich insbesondere in den Büchern des Traumaforschers Peter Levine auf interessante Zusammenhänge gestoßen. Er hat sich intensiv mit Forschungen zu tierischen Instinkten auseinandergesetzt und beschreibt, dass bei Säugetieren und Menschen eine Überschneidung bezüglich angstauslösender Momente existiert: Diese besteht in „unserer Reaktion auf große, lauernde Schatten“. Diese Aussage fand ich erstaunlich, denn wenn wir achtsam in uns hineinspüren, können wir dieses körperliche Unbehagen noch heute wahrnehmen. Es wird immer dann ausgelöst, wenn jemand hinter uns steht und über unsere Schulter auf das vor uns liegende Blatt späht - so wie früher der Lehrer oder die Lehrerin. Wie ein großer Schatten von hinten.
Levine beschreibt noch eine zweite Reaktionsform, die wir Menschen „selbst mit den kleinsten Geschöpfen wie Säugetieren, Vögeln und möglicherweise sogar Motten gemeinsam haben: Es ist unsere angeborene Angst vor Augen, die sich schnell auf uns herabsenken (vermutlich die eines Vogelwesens, das uns verfolgt).“ Der kontrollierende Blick des Lehrers oder der Lehrerin verfolgt uns auch ein Leben lang. Heute sind es vielleicht der Chef oder die Vorsitzende des Aufsichtsrats, die einen kritischen Blick in die Runde schweifen lassen. Auch wenn es auf rationaler Ebene keine Rolle spielt: Unbewusst hoffen wir doch, dass der Blick der Autorität nicht „an uns hängen bleibt“ und wir nicht plötzlich aufgefordert werden, etwas beitragen zu müssen, auf das wir nicht vorbereitet sind.
Ich habe ich mit Betroffenen und Experten gesprochen, die auf unterschiedliche Art und Weise mit Schultraumata in Berührung kommen. Besonders interessant fand ich die Beschreibung der sogenannten „Bauchweh-Kinder“, weil ich selbst in meiner Kindheit unter dubiosen Bauchschmerzen gelitten habe, die plötzlich verschwanden, wenn ich zuhause bleiben durfte und nicht in die Schule musste. Der Allgemeinmediziner und Psychotherapeut Dr. Hubertus Blümel, den ich für das Buch interviewt habe, spricht in diesem Kontext ein Muster an: Bei vielen Krankschreibungen lägen gar keine körperlichen Erkrankungen vor, die Therapie würde eher darin bestehen, den Patienten oder die Patientin für ein paar Tage aus dem (stressenden) System herauszunehmen. In allen Gesprächen wurde deutlich, dass Lernen immer dann gut funktioniert, wenn die Beziehung zur lehrenden Bezugsperson stimmt. Wir alle hatten doch unsere Lieblingslehrerinnen oder Lieblingslehrer, bei denen das Lernen leichtgefallen ist und Freude gemacht hat. Wenn wir junge Menschen auf das Leben vorbereiten wollen, dann helfen wir ihnen und tun alles dafür, damit sie lernen, zwischenmenschliche Beziehungen zu gestalten.
Darum führt aus meiner Sicht kein Weg daran vorbei, sich mit einer hochgradig individuellen Form der Förderung auseinanderzusetzen. Klassengrößen mit 30 Schülerinnen und Schülern sind dafür nicht geeignet! Ein Ansatz wäre, den Schülerinnen und Schülern zu ermöglichen, sich ihre Lehrerinnen und Lehrer selbst auszusuchen. Ein weiterer, Eltern, (Kinder-)Ärzte und Bezugspersonen im Erkennen von psychosomatischen Symptomen zu schulen. So könnte das Umfeld von Kindern dafür sensibilisiert werden, wiederkehrende, undefinierte Symptome nicht nur zu erkennen, sondern auch deren Ursache zu hinterfragen.
Wenn wir eine neue Generation an starken, selbstbewussten jungen Menschen fördern wollen, die durch ihr eigenes Glück, ihre Zufriedenheit und ihr Wohlbefinden einen Beitrag zum Erhalt unserer demokratischen Gemeinschaft leisten (wollen), sollten wir das bestehende Schulsystem hinterfragen, achtsam nach traumatischen Erfahrungen fragen und mehr Sorgsamkeit in der Auswahl der geeigneten Schule für die Persönlichkeit des Kindes walten zu lassen. Nur weil Eltern von Konzepten wie Waldorf oder Montessori begeistert sind, muss das nicht heißen, dass die Kinder dort richtig sind. Für jedes Kind gibt es die passende Schule. Es gilt nur, sie zu finden!
Die Gastautorin
Mira Christine Mühlenhof ist Expertin für intrinsische Motivation, Autorin, Speakerin und Erkenntnis-Coach.
Sie studierte Sozialpsychologie und Germanistik und war als Journalistin und Moderatorin tätig, bevor sie 2012 ihr Coaching- und Beratungsunternehmen gründete.
Mit der von ihr entwickelten Key to see®-Methode übersetzt sie altes Wissen um die Persönlichkeit des Menschen in die heutige Zeit. Mit ihrem Team berät sie Unternehmen und Privatpersonen zu Themen wie Veränderung und nachhaltiger Motivation.
Zudem ist Mira Mühlenhof als Dozentin an der Technischen Universität Braunschweig tätig.
Gerade ist im mvgverlag ihr neues Buch erschienen: „Lass die Schatten der Schulzeit hinter dir. Wie sich dein Leben verbessert, wenn du dein Schultraumata erkennst und loslässt“.
Bild: Darshana Borges
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