Das Wichtigste in Kürze
- Der Psychologin Nora Blum zufolge ist Freundlichkeit die Antwort auf aktuelle gesellschaftliche Herausforderungen.
- Freundlichkeit steigert die eigene Zufriedenheit und Gesundheit und fördert soziale Beziehungen in der Gesellschaft.
- Freundliche Handlungen wirken regelrecht ansteckend und stärken das gesellschaftliche Miteinander.
Man könnte meinen, Freundlichkeit sei aus der Zeit gefallen. Im Alltag erleben wir immer wieder kleine Szenen, die das Bild einer zunehmend raueren Gesellschaft zeichnen: Menschen, die im Straßenverkehr keine Geduld mehr aufbringen. Gespräche, die eher nebeneinander als miteinander stattfinden. Eine wachsende Anspannung aufgrund der gesellschaftlichen Herausforderungen, Politiker, die sich auf offener Bühne gegenseitig diffamieren und ein Grundmisstrauen, das uns vorschnell urteilen lässt.
In der digitalen Welt scheint die Schwelle zur Unfreundlichkeit noch niedriger. Die sozialen Medien, die uns verbinden sollten, werden nicht selten zum Schauplatz für Abwertung, Zynismus oder Hass.
Woher kommt diese neue Unfreundlichkeit?
Woher kommt diese neue Unfreundlichkeit? Unsere Gesellschaft befindet sich in einem tiefgreifenden Wandel. Der Rückzug ins Digitale, die Auflösung traditioneller Gemeinschaften wie Kirche oder Vereinsleben, und die ständige Konfrontation mit Krisen und Unsicherheit – all das hinterlässt Spuren. Wir ziehen uns zurück, die Aufmerksamkeit geht häufiger zum Smartphone statt zum Gegenüber und freundliche Begegnungen auf der Straße werden flüchtiger.
Auch laut einer aktuellen Forsa-Umfrage im Auftrag der DAK sagen 70 Prozent der Menschen, dass sich das soziale Miteinander in den letzten drei Jahren spürbar verschlechtert hat. Begriffe wie Respektlosigkeit, Gleichgültigkeit und Egoismus fallen dabei besonders oft.
Die Folgen: Einsamkeit, Stress, Misstrauen
Diese Entwicklung bleibt nicht ohne Folgen. Jedes Jahr steigt trotz unzähliger Möglichkeiten sich digital zu vernetzen, die Zahl derer, die sich einsam fühlen. Laut einer Studie des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung stieg der Anteil der Menschen, die sich zumindest teilweise einsam fühlen, von 15 Prozent im Jahr 2017 auf 36 Prozent im Jahr 2022. Auch Stress, Erschöpfung und depressive Symptome nehmen zu.
Es scheint, als würde uns das zunehmende Auseinanderdriften nicht glücklich machen. Als würden uns die Begegnungen fehlen, die uns früher im Alltag selbstverständlich waren. Kein Wunder: Nichts beeinflusst unsere Lebenszufriedenheit so stark wie soziale Beziehungen. Studien zeigen immer wieder, dass Menschen, die sich eingebunden und verbunden fühlen, nicht nur glücklicher, sondern auch gesünder und belastbarer sind. Der Mangel an echter Verbindung hingegen wirkt wie ein schleichendes Gift – für die Einzelnen und für das gesellschaftliche Miteinander.
Von wegen schwach: Freundlichkeit erfordert Haltung und Mut
Ich glaube, dass wir eine Richtungsänderung brauchen. Denn mehr Härte ist nicht die Antwort auf die Herausforderungen unserer Zeit. Mehr Freundlichkeit schon.
Und an dieser Stelle dürfen wir Freundlichkeit nicht missverstehen, denn sie wird oft missverstanden: als Gefallenwollen, Harmoniezwang oder Konfliktscheue. Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall. Wirklich radikal freundlich zu sein bedeutet, mit anderen und mit sich selbst transparent umzugehen – auch in schwierigen Momenten. Es heißt, ehrlich zu kommunizieren, Grenzen klar zu benennen und trotzdem empathisch zu bleiben. Wer freundlich ist, muss nicht weich sein. Im Gegenteil: Freundlichkeit erfordert Klarheit, Haltung und sehr oft auch Mut.
Wer diese Form der Freundlichkeit lebt, der wird reichlich belohnt. Denn regelmäßige freundliche Handlungen führen zu einer erhöhten Lebenszufriedenheit. Studien zeigen: Schon kleine freundliche Gesten aktivieren unser Belohnungssystem im Gehirn und setzen Glückshormone frei. Freundliche Menschen erleben mehr Zufriedenheit, führen stabilere soziale Beziehungen und sind sogar körperlich gesünder.
Zur Gastautorin
Nora Blum hat den Spiegel-Bestseller „Radikale Freundlichkeit“ geschrieben und setzt sich für ein freundlicheres Miteinander ein.
Zuvor gründete sie die Therapieplattform Selfapy , die bereits über 50.000 Menschen zu mehr Lebensfreude verhelfen konnte.
Als Psychologin unterstützt sie Menschen auf ihrem Weg zu einem freundlicheren und stressfreieren Leben.
Mehr über sie unter www.norablum.com
Ja, auch unsere körperliche Gesundheit wird gestärkt. So konnten Forschende zum Beispiel zeigen, dass das Praktizieren von regelmäßigen wohlwollenden Gesten sich nach einigen Wochen sogar im Blut nachweisen lässt. Freundlichkeit begünstigt entzündungshemmende Prozesse im Körper, Stress wird reduziert und das Immunsystem gestärkt – am Ende leben wir länger.
Dabei profitieren nicht nur wir selbst, denn Freundlichkeit wirkt oft ansteckend. Wer sich gesehen, gehört und respektiert fühlt, gibt diese Erfahrung oft weiter. So entsteht ein Dominoeffekt: Ein Akt der Freundlichkeit kann mehrere weitere nach sich ziehen, nicht nur im privaten Umfeld, sondern auch im öffentlichen Raum, in Organisationen, Schulen oder Unternehmen. Eine Gesellschaft, in der Freundlichkeit gelebt wird, ist widerstandsfähiger, kooperationsbereiter und gerechter. Sie schafft Vertrauen und Verbindung, beides Ressourcen, die wir dringend brauchen, wenn wir die Herausforderungen unserer Zeit gemeinsam bewältigen wollen.
Wenn Freundlichkeit zur Herausforderung wird
So viel zur Theorie. Aber wie leben wir Freundlichkeit, wenn es schwierig wird? Wenn jemand anderer Meinung ist als wir? Uns gegenüber unfreundlich auftritt oder eine Situation uns unangenehm ist? Diese Fragen kennen viele von uns.
Oft halten wir uns aus Unsicherheit zurück, aus Angst, nicht ernst genommen zu werden oder als naiv zu gelten. Dabei unterschätzen wir systematisch, wie viel Wirkung eine freundliche Geste wirklich haben kann. Das belegte auch eine Studie der amerikanischen Wissenschaftler Nick Epley und Amit Kumar im Jahr 2023: Rund 1000 Teilnehmende wurden gebeten, einer anderen Person spontan etwas Freundliches zu tun. Manche schrieben eine liebe Nachricht, andere verschenkten einen Muffin an eine fremde Person. Danach schätzten sie ein, wie sehr sich ihr Gegenüber wohl gefreut hatte. Das Ergebnis: Sie lagen fast immer deutlich unter dem tatsächlichen Empfinden der Beschenkten. Egal ob fremd oder vertraut: Freundlichkeit kam besser an, als erwartet.
Und selbst wenn uns eine Situation herausfordert, lohnt sich der Versuch, freundlich zu bleiben. Denn wer auf Unfreundlichkeit aggressiv reagiert, verstärkt oft nur das Gegeneinander. Ein ruhiger, klarer und wohlwollender Umgangston hingegen kann Spannungen entschärfen und neue Möglichkeiten zur Verständigung schaffen. Es braucht manchmal nur eine Person, die den Kreislauf aus Ärger und Reaktion unterbricht und schon verändert sich die Dynamik.
Freundlichkeit im Alltag leben: Fünf praktische Impulse
Wie also können wir Freundlichkeit wieder mehr in unseren Alltag bringen? Hier sind fünf einfache, aber wirkungsvolle Impulse:
- Echtes Zuhören: Wenn dir jemand etwas erzählt, versuche wirklich zuzuhören – ohne innerlich mit etwas anderem beschäftigt zu sein oder zu überlegen, was du als Nächstes antworten könntest.
- Fremde anlächeln: Mach es dir zur Übung, an manchen Tagen jeden Menschen, der dir begegnet, kurz anlächeln. Einer der besten Glücksbooster am Morgen!
- Handy weglegen: Wenn du in den Bus steigst oder in der Warteschlange stehst: Lass das Handy erstmal in der Tasche. Schau dich um und nimm die Menschen um dich herum wahr.
- Wohlwollen wählen: Wenn sich dir gegenüber jemand unfreundlich verhält, halte einen Moment inne und überlege, welche wohlwollende Erklärung es wohl für das Verhalten deines Gegenübers geben könnte. Vielleicht ist die Person selbst im Stress? Hat schlecht geschlafen? Ist überfordert? Wohlwollend auf andere Menschen zu blicken schafft innere Gelassenheit.
- Klarheit statt Fake-Harmonie: Freundlichkeit heißt nicht, alles herunterzuschlucken. Sag, was dich stört, aber tu es mit Respekt. Grenzen setzen ist wichtig für einen transparenten Umgang miteinander – es geht aber auch ohne Härte.
Vielleicht ist Freundlichkeit nicht die lauteste Antwort auf die Probleme unserer Zeit. Aber sie ist eine wirksame. Sie bringt uns zusammen, wo so vieles uns aktuell zu trennen scheint. Und sie beginnt bei uns selbst. Jeden Tag neu.
URL dieses Artikels:
https://www.mannheimer-morgen.de/meinung/debatte_artikel,-debatte-warum-taete-uns-mehr-freundlichkeit-gut-nora-blum-_arid,2333007.html