Warum sollten wir verstärkt auf Weiterbildung setzen, Herr Fojkar?

Von Migration bis Digitalisierung: Berufliche Qualifizierung kann dabei helfen, die großen Probleme unserer Zeit zu lösen, sagt IB-Vorstandsvorsitzender Thiemo Fojkar. Weiterbildung wird dann zum Mittel gegen gesellschaftliche Spaltung. Ein Gastbeitrag

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Thiemo Fojkar
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Bildung und Qualifizierung sind entscheidend für die Integration von ausländischen Arbeitnehmenden. © Sophia Kembowski/dpa

Welche politischen Probleme halten die Deutschen in der derzeit aufgeheizten Stimmung für „am dringlichsten“? Laut ARD-Deutschlandtrend vom September 2024 lauten die Top Fünf (in dieser Reihenfolge): Zuwanderung, Wirtschaft, soziale Ungerechtigkeit, Umweltschutz sowie Bildung. Man kann diese Priorisierung für richtig oder falsch halten, aber Fakt ist: Die Menschen denken so. Unter diesen Umständen sollte man eine – zunächst vielleicht überraschend klingende – Frage stellen: Warum findet in Deutschland nicht viel, viel mehr Weiterbildung statt?

Die Rede ist nicht von politischer Weiterbildung. Auch die ist angesichts des derzeitigen Gesellschaftsklimas wichtig. Doch für die von den Deutschen genannten Problemen ist sie nur bedingt eine Lösung. Vielmehr geht es um berufliche Bildung, vor allem um die Qualifizierung von Arbeitnehmenden, zum Beispiel zu Fachkräften. Dabei ist nicht ausschließlich der Staat gefordert, sondern auch Unternehmen und jede und jeder Einzelne.

Der Gastautor

Thiemo Fojkar ist Vorstandsvorsitzender des Internationalen Bundes (IB) und der rechtsfähigen IB-Stiftung Frankfurt am Main. Der Internationale Bund ist einer der größten freien Träger der Jugend-, Sozial- und Bildungsarbeit in Deutschland mit bundesweit mehr als 14 000 Mitarbeitenden in rund 1000 Einrichtungen.

Der Diplom-Pädagoge war zuvor unter anderem Bildungsreferent beim Verband der Metall- und Elektroindustrie Baden-Württemberg (Südwestmetall) und Geschäftsführer der BBQ Berufliche Bildung gGmbH und der Apontis GmbH Gesellschaft für Personalentwicklung und Personale Dienste. Außerdem war er Geschäftsführer des Bildungswerkes der Baden-Württembergischen Wirtschaft e.V.

Er fungiert zudem als Vorsitzender des Bundesverbands der Träger beruflicher Bildung (BBB) sowie als Präsident des Europäischen Verbands beruflicher Bildungsträger. Darüber hinaus ist er Mitglied im Präsidium des Bundesverbandes der Mittelständischen Wirtschaft (BVMW), Mitglied des Präsidiums der Europa-Union Deutschland (EUD) sowie Vorstandsmitglied der Europäischen Bewegung Deutschland (EBD).

Bild: IB

Nehmen wir die Themen, die den Deutschen auf der Seele liegen: Welche Mehrwerte würde eine intensivere Weiterbildung hier bringen?

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Sandra Usler
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Die deutsche Bevölkerung stemmt sich eher gegen „zu viel“ Zuwanderung als gegen „zu wenig“. Wer Vorbehalte gegen Migration hat, begründet dies meist mit der Furcht vor fehlender Integration der Menschen aus anderen Kulturen. Tatsächlich ist es ein Problem, wenn jemand auch nach Jahren im neuen Land die Sprache nicht ausreichend spricht, keinen Arbeitsplatz hat und auf Hilfe vom Staat angewiesen ist.

Was liegt näher, als diese Menschen sprachlich und beruflich aus- oder weiterzubilden? Im Job lernt man neue Menschen kennen, verbessert seine Sprachkenntnisse und fühlt sich gebraucht. Das nutzt gleich in vielfacher Hinsicht: Zugewanderte integrieren sich, die Sozialkassen werden entlastet, alle tragen zum Wohlstand aller bei und Vorbehalte – zumindest in Teilen der Bevölkerung – werden abgebaut.

Tatsächlich findet bislang das Gegenteil statt. Obwohl viele Menschen fehlende Integration von Eingewanderten fürchten, spart der Staat zum Beispiel bei Sprachkursen für Geflüchtete. Hier ist auch die Bevölkerung gefordert: Man darf kritisieren, wenn sich jemand nach Jahren in Deutschland kaum verständigen kann. Dann sollte man allerdings nicht die Nutzung von Steuergeld für Integrationskurse beklagen.

Wirtschaft: Überall Fachkräftemangel

Das Thema Fachkräftemangel ist inzwischen so dringlich, dass auch unternehmerisch uninteressierte Menschen Bescheid wissen. Zahlreiche Branchen können in Deutschland viele wichtige Stellen nicht besetzen: Pflege, Handwerk, Bildung, IT, Handel, Gastronomie und viele mehr. Im Grunde sind alle Branchen betroffen. Die geburtenstarken Jahrgänge gehen in Rente, der Nachwuchs reicht nicht zum Füllen der Lücke. Aus diesem Grund fordern Arbeitgeberverbände seit Jahren mehr Zuwanderung.

Wer nach Deutschland kommt, hat aber nicht zwingend die Qualifikation, die gebraucht wird. Nun kann man einem Syrer nicht vorwerfen, dass er vor Bürgerkrieg oder politischer Verfolgung flieht, obwohl an seinem Beruf hierzulande kaum Bedarf herrscht.

Andere Zugewanderte sind in den bei uns gefragten Branchen durchaus qualifiziert. Doch ihnen fehlt oft ein offizielles Zertifikat. Der Hintergrund: Ein duales Ausbildungssystem wie in Deutschland kennt man in vielen anderen Nationen nicht. Dort gilt Berufserfahrung als Ausweis des Könnens.

Die Lösung in beiden Fällen muss heißen: Aus- und Weiterbildung, gegebenenfalls bis zum anerkannten Abschluss. Viele Geflüchtete lernen gern einen neuen Beruf, wenn das eine Bleibeperspektive eröffnet. So bekäme die Wirtschaft ihre Fachkräfte und behielte die internationale Wettbewerbsfähigkeit – zum Wohl(stand) Deutschlands.

Soziale Ungleichheit und Armut

Im September 2024 waren laut Bundesagentur für Arbeit rund 2,8 Millionen Menschen in Deutschland arbeitslos. Abgesehen davon, dass jede erwerbslose Person eine zu viel ist, muss man sagen: Das waren im wiedervereinigten Deutschland schon deutlich mehr. Doch die Statistik darf nicht täuschen. Rund jede sechste Person in Deutschland galt 2023 als armutsgefährdet. Auffällig hoch ist das Armutsrisiko bei Erwerbslosen, Menschen mit niedrigem Bildungsstand und Alleinerziehenden. Rund sieben (!) Millionen Menschen hängen im Niedriglohnsektor fest. Echte gesellschaftliche Teilhabe, Urlaube oder große Anschaffungen sind für sie und ihre Kinder kaum möglich. Das sollte in einem reichen Land wie Deutschland nicht sein und schadet auch der Binnennachfrage. Hinzu kommt: Armut wird oft als Grund genannt, extremistische Parteien zu wählen.

Weiterbildung ist auch hier ein realistischer, effektiver Weg. Menschen erhalten dadurch neue berufliche Perspektiven. Der Bedarf der Wirtschaft ist ja da. Dies öffnet Arbeitnehmenden wiederum die Tür zu mehr Teilhabe und Wohlstand. Haben die Menschen einen Migrationshintergrund, kommt auch noch eine verbesserte Integration hinzu. Wichtig: Das funktioniert nur, wenn das bisherige Einkommen eines im Niedriglohnsektor tätigen Menschen während einer längeren Weiterbildung bestehen bleibt. Keine Alleinverdienerin mit 1500 Euro netto im Monat und zwei Kindern kann sich leisten, ein Quartal für Qualifizierung auszusetzen – und die womöglich selbst zu zahlen. Hier müssen andere einspringen.

Umweltschutz und Klimawandel

Deutschland muss nicht nur digitaler werden, sondern auch ökologischer. 99 Prozent der seriösen Klimaforschenden empfehlen dringend eine Dekarbonisierung, also den Umstieg von fossiler Energie zu erneuerbarer. Wer sich dem verschließt, hinterlässt den folgenden Generationen der eigenen Kinder, Enkel und Urenkel ein aus heutiger Sicht unlösbares Problem.

Nun ist diese Umstellung nicht von heute auf morgen zu bewerkstelligen. Zudem bedarf sie neben Sozialverträglichkeit eines technischen Wissens, das es nicht überall gibt. Sprich: Auch hier herrscht Fachkräftemangel. Deutschland braucht mehr Solar-Technikerinnen oder Physiker, die die Transformation umsetzen. Die Lösung wäre auch hier Weiterbildung. Aufgabe des Staates muss es sein, die nötigen Rahmenbedingungen dafür zu schaffen. Nur wenn Unternehmen Vertrauen in eine Entwicklung haben, investieren sie in die Qualifizierung ihres Personals.

Von Kita bis Berufsleben: das Thema Bildung

An sich liegt der Zusammenhang zwischen „Bildung“ und „Weiterbildung“ nahe. Jedoch sehen die Deutschen vermutlich nicht „fehlende Weiterbildung“ als Problem. Es sind die für sie direkt spürbaren Mängel im Bildungssystem, die sie stören. Das fängt bei fehlenden Kita-Plätzen an. Und geht weiter mit Schulen, in denen Kinder aus Akademiker-Familien dem Weg ihrer Eltern zum Abitur folgen – und jene aus sozial benachteiligtem Umfeld genau wie Mutter und Vater den Hauptschulabschluss machen (wenn überhaupt). Der Mangel an pädagogischem Personal verhindert, dass Kinder, ob drei, neun oder 13 Jahre alt, die nötige individuelle Betreuung erfahren. Nur wer das ändert, durchbricht den Teufelskreis der Armutsvererbung.

Hier gibt es zwei einander ergänzende Ansätze: Einerseits sollte man mehr Menschen eine fair bezahlte Ausbildung als Erzieherin oder Erzieher oder ein Lehramtsstudium ermöglichen. Dann erhielten Kinder in Kitas und Schulen auch eine bessere Bildung. Andererseits wäre es angebracht, Menschen mit niedrigem Schulabschluss – oder ganz ohne – beruflich (höher) zu qualifizieren. Dann könnten sie ihre eigenen Kinder finanziell, zeitlich und inhaltlich besser auf deren Bildungsweg unterstützen.

Fazit: Es braucht nicht viel, um „Weiterbildungsnation“ zu werden. Hauptsächlich fehlt politischer, aber auch unternehmerischer oder individueller Wille. Doch Parteien schauen ja genau, was das Volk fordert. Vielleicht sollten die Deutschen einfach in großer Zahl für mehr Weiterbildung demonstrieren. Wenn Bund, Länder und Kommunen dann die richtigen Weichen stellen, würde die Wirtschaft sicher mitziehen. Das wäre ein Gewinn – für alle.

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