Warum können Smartphones die Entwicklung unserer Kinder gefährden, Herr Bauer?

Kein Gerät kann menschliche Beziehungen ersetzen. Wie wir es schaffen, gesund mit digitalen Geräten und ihren Anwendungen umzugehen – ohne Kindern zu schaden und Mitmenschen zu verärgern. Ein Gastbeitrag

Von 
Joachim Bauer
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Digitale Kompetenzen erlernen Kinder nicht, indem wir ihnen im Kindergarten- oder Grundschulalter ein Tablet oder Smartphone in die Hand geben, sagt unser Gastautor Joachim Bauer. © istock

Wir alle haben die Beobachtung gemacht: ein Kind, das den Kontakt zu seiner erwachsenen Begleitperson sucht, die aber mit Wichtigerem beschäftigt ist und ihre Aufmerksamkeit auf ihr Smartphone gerichtet hat. Familien, die zusammen Zeit verbringen, sei es zuhause oder unterwegs (zum Beispiel im Zug), aber kein Wort miteinander wechseln, stattdessen jedes Familienmitglied den Blick auf einen Bildschirm gerichtet.

Paare, Arm in Arm unterwegs, zugleich aber in engem digitalen Kontakt mit abwesenden Dritten. Wie es sich anfühlt, zu erleben, dass man als real anwesende Person für jemand Anderen nicht ausreichend bedeutsam ist, um die ganze Aufmerksamkeit des Gegenübers auf sich zu ziehen, wird inzwischen auch von Wissenschaftlern untersucht.

Babys, die erleben, wie eine Bezugsperson, die gerade noch mit ihnen im Kontakt war, sich plötzlich ab- und ihrem Smartphone zuwendet, zeigen eine deutliche Stressreaktion und reagieren mit beschleunigtem Herzschlag. Studien zeigen, dass Erwachsene, die das Gleiche vonseiten ihres Partners oder ihrer Partnerin erleben, innerlich frustriert und verärgert reagieren und dazu neigen, sich zu revanchieren – mit der Folge, dass sich die Partnerschaft verschlechtert.

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Für das überall (vielleicht auch bei sich selbst?) zu beobachtende Phänomen, dass sich Menschen von einem real anwesenden Gesprächspartner ab- und ihrem tragbaren digitalen Endgerät zuwenden, haben Forscherinnen und Forscher den Begriff des „Phubbing“ geprägt (zusammengesetzt aus „Phone“ und „Snubbing“= jemanden brüskieren). Tatsächlich hatte das Smartphone, das erst seit etwa 2010 in unser Leben kam (vorher gab es „nur“ Handy-Telefone) und dem wir ohne Frage sehr viele Annehmlichkeiten verdanken, auch Schattenseiten: Zu diesen gehört der Verlust der ungeteilten Aufmerksamkeit.

Smartphones sind wunderbare Instrumente, solange wir es sind, die bestimmen, wie wir sie gebrauchen. Tatsächlich aber haben sie, wenn wir ehrlich sind, längst begonnen, uns zu bestimmen und unter ihre Kontrolle zu nehmen. Mehr noch als für die Endgeräte selbst gilt dies – vor allem bei jüngeren Menschen – für Ihre beiden wichtigsten Applikationen, die Social Media-Plattformen und die Videospiele.

Digitale Kompetenz erwerben Kinder nicht dadurch, indem wir ihnen im Kleinkindalter Tablets in die Hand geben

Alleine in der Altersgruppe zwischen 10 und 17 Jahren sind 1,2 Millionen junge Menschen, mehrheitlich Mädchen, mehr als vier Stunden täglich auf einer der Social-Media-Plattformen (Instagram, Tiktok, Facebook u. a.) unterwegs. In der gleichen Altersgruppe beschäftigen sich eine Million Jugendliche, mehrheitlich Jungs, täglich drei bis fünf Stunden mit Videospielen (sie nennen es gerne „gamen“ bzw. „zocken“). Mehr als 330 000 gamen mehr als fünf Stunden täglich. Die Zahlen stammen aus repräsentativen Erhebungen der kinder- und jugendpsychiatrischen Klinik der Uniklinik Hamburg.

Auch hier gilt: Social Media zu benutzen oder am Bildschirm zu spielen ist nichts Schlechtes, solange die Betreffenden die Applikationen als einen von ihnen kontrollierten und begrenzten Teil ihres Lebens benutzen. Doch genau das ist bei sehr vielen Menschen (jeden Alters) nicht mehr der Fall. Die Anwendungen haben bei vielen die Macht über ihr Leben genommen: Sie beherrschen die gesamte freie Zeit, drängen sich nicht nur in das Familienleben, sondern auch in Kita, Schulen und Arbeitsplätze hinein. Intensivnutzer-innen und -nutzer der genannten Applikationen erleben, verglichen mit anderen Jugendlichen, ein höheres Maß an Unzufriedenheit mit sich und dem eigenen Leben und sie tragen ein höheres Risiko für Einsamkeit und für die Entwicklung depressiver Störungen.

Der Gastautor



Prof. Dr. med. Joachim Bauer ist Neurowissenschaftler, Arzt, Psychotherapeut und Buchautor.

Zuletzt erschien sein Buch „Realitätsverlust – Wie KI und virtuelle Welten von uns Besitz ergreifen“.

Joachim Bauer führt seit 20 Jahren Projekte in Schulen durch und entwickelte das „Lehrkräfte-Coaching nach dem Freiburger Modell“, welches seit mehreren Jahren auch vom Stuttgarter Kulturministerium eingesetzt wird.

Joachim Bauer war lange erfolgreich an der Universität Freiburg tätig. Er lehrt, forscht und praktiziert jetzt in Berlin.

Wie würde die Advents- und Weihnachtsgeschichte aussehen, wenn Josef und Maria, die Heiligen Drei Könige, die Hirten auf dem Felde schon digitale Endgeräte gehabt hätten? Der Ausbildungs- und Lebensweg von Jesus wäre jedenfalls völlig anders verlaufen.

Damit keine Missverständnisse aufkommen: Der Schreiber dieser Zeilen ist ein leidenschaftlicher Befürworter von digitaler Kompetenz, der seinen halbwüchsigen Sohn unterstützt hat, einen eigenen Computer zusammenzubauen. Sobald sie das Alter von etwa elf Jahren aufwärts erreicht haben, sollten junge Menschen darin unterrichtet werden, zu programmieren und zu verstehen, wie digitale Produkte funktionieren.

Digitale Kompetenz erwerben Kinder jedoch nicht dadurch, dass wir ihnen bereits im Kleinkindes- und Grundschulalter Tablets oder Smartphones an die Hand geben, mit denen sie aufgrund der Unreife ihres Gehirns und der komplett fehlenden Selbststeuerung sehr schnell in eine unheilvolle Abhängigkeit geraten können.

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Studien zeigen, dass Kinder, die bereits in der Vor- und Grundschulzeit digitale Endgeräte benützen, dem Risiko einer verspäteten Entwicklung ihrer Sprache, ihres Körpers und ihrer emotionalen Selbstregulation unterliegen. Kinder im Vorschulalter sollen spielen, sich bewegen, singen, die Regeln des sozialen Zusammenlebens erlernen und die reale Welt entdecken.

Smartphones sind wunderbare Instrumente, solange wir bestimmen, wie wir sie gebrauchen

Intelligenz entwickeln Kleinkinder vor allem dadurch, dass sie mit ihrem (realen) Körper Erfahrungen in der realen, analogen Welt machen. Was Gravitation ist, erschließt sich Kindern dadurch, dass sie hinfallen und wieder aufstehen; was Geschwindigkeit ist, lernen sie durch Rennen; was Widerstand ist, durch Balgen. Was Zahlen sind, erschließt sich ihnen durch die Betrachtung ihrer Fingerchen. Was die Natur wirklich ist, können sie nur durch Exkursionen erfahren. Digitale Endgeräte führen bei Kindern unter zehn Jahren zu einer unheilvollen Ent-Dinglichung und Ent-Körperlichung.

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Digitale Hilfsmittel können den Schulbetrieb bereichern, aber auch stören. Die jüngste PISA-Untersuchung, die dieser Tage wieder zu Aufsehen führte, wies unter anderem darauf hin, dass digitale Endgeräte im Schulunterricht ein starkes Potenzial haben, Kinder und Jugendliche abzulenken. Vom Tod der ungeteilten Aufmerksamkeit war eingangs schon die Rede. Ein anderes Wort für ungeteilte Aufmerksamkeit ist: Konzentration. Ohne Konzentration kein Lernen.

Früheren PISA-Studien war zu entnehmen, dass in stark durchdigitalisierten Schulen schlechtere Lernergebnisse erzielt werden. Die Aufmerksamkeit von Kindern und Jugendlichen binden können nur real anwesende, pädagogisch gut ausgebildete Lehrerinnen und Lehrer. Der Grund hierfür liegt in der neurobiologischen Konstruktion des menschlichen Gehirns: Die Motivationssysteme von Kindern und Jugendlichen lassen sich durch nichts so intensiv aktivieren wie durch die Erfahrung, „gesehen“ und beachtet zu werden.

Die stärkste Droge für den Menschen ist der real anwesende andere Mensch

Die Attraktivität von Applikationen wie Social Media oder Videospielen leitet sich aus der Erwartung her, dort Beachtung und Anerkennung zu finden. Alle Daten zeigen aber, dass noch so intensiv genutzte Social Media und Videospiele keinen interpersonellen „Nährwert“ haben. Die stärkste Droge für den Menschen ist der real anwesende andere Mensch. Gute Lehrerpersönlichkeiten haben für Kinder einen durch nichts, auch nicht durch Lehrer-Roboter zu ersetzenden motivationalen „Nährwert“.

Dass der Mensch den realen Anderen braucht, ist eine der Kernbotschaften der Bibel. Jesu Christi Botschaften hätten allerdings schon zu seiner Zeit kein Gehör gefunden, wenn digitale Endgeräte und ihre Applikationen vorhanden gewesen wären, denn überall wäre Jesus Menschen begegnet, die ständig am Smartphone kontrolliert hätten, welche Botschaften („Feeds“) ihnen die im Zentrum des Römischen Reiches sitzenden Digitalkonzerne zugespielt hätten.

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