Debatte

Warum ist Rassismus immer noch ein Thema, Frau Brokowski-Shekete?

Es ist etwas, das Weiße oft nicht sehen - oder nicht sehen wollen: Diskriminierung und Ausgrenzung bestimmen immer noch den Alltag vieler Schwarzer Menschen, auch in Deutschland. Ein Gastbeitrag von Florence Brokowski-Shekete

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Florence Brokowski-Shekete
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Geht alle an: Alltagsrassismus. Er existiert auch heute noch für viele Schwarze Menschen in Deutschland – auch wenn die Gesellschaft dies gerne leugnet. © Istock

In unterschiedlichen Situationen spreche ich über das Leben jener Menschen, die etwa 27 Prozent der Bevölkerung Deutschlands ausmachen und über einen zum Teil sichtbaren Migrationshintergrund verfügen. Es sind Einblicke in die Herausforderungen, die das Leben als sichtbare Minderheit in einer Mehrheitsgesellschaft mit sich bringen kann. Ich erläutere Ausgrenzung und rassistische Diskriminierung, ob alltäglicher, struktureller oder institutioneller Art.

Wenn immer ich über diese Themen spreche und so wohlwollend mir mein Gegenüber auch zuhört, werde ich nicht selten darüber „aufgeklärt“, dass das heutzutage doch alles kein Thema mehr sei.

Nach den Wurzeln, statt nach der Herkunft zu fragen, kann zu besserem gegenseitigen Verständnis führen

Nun höre ich diesen Satz nicht zum ersten Mal. Dennoch, er irritiert mich. Versuchte ich nicht gerade, Situationen zu beschreiben, denen Menschen, die nicht zur weißen Mehrheitsgesellschaft gehören, in Deutschland begegnen - auch heute noch? Schön wär’s, denke ich mir und überlege, was mir mein Gegenüber mit diesem Satz signalisieren möchte.

Soll mir dieser Satz beruhigend verdeutlichen, dass die Menschen, die aufgrund ihrer nicht weißen Hautfarbe inzwischen derart integriert sind, dass ihr Anderssein in der Mehrheitsgesellschaft keinen Unterschied mehr mache? Und deshalb brauche es nicht mehr thematisiert werden? Oder ist es meinem Gegenüber zu mühevoll, über diese Thematik tiefgründiger nachzudenken?

Und was bedeutet es, wenn mir jemand konstatiert, ich würde es mit der Interkulturalität viel zu genau nehmen? Aus welchem Grund wird ein Thema, das noch immer den Alltag vieler nicht weißer Menschen bestimmt, genau diesen Menschen abgesprochen?

Um eines vorwegzunehmen: Menschen, die aufgrund ihrer Hautfarbe eine Diskriminierung erfahren und diese Erfahrungen zum Thema machen, springen auf keinen Zug auf, weil dieser gerade en vogue sei, nehmen sich auch nicht zu wichtig und leiden auch nicht an unbearbeiteten Minderwertigkeitskomplexen. Es sind Menschen, die es müde sind, aufgrund von historisch tradierten, internalisierten, in der gesellschaftlichen Sozialisation verankert Stereotypen und Vorurteilen an bestimmten Bereichen des Lebens schwer oder gar nicht teilhaben zu können.

Florence Brokowski-Shekete



Florence Brokowski-Shekete, als Kind nigerianischer Eltern in Hamburg geboren, ist Autorin und Schulamtsdirektorin in Baden-Württemberg. Sie ist Gründerin der Agentur FBS intercultural communication, bei der sie seit 1997 als Coach und Trainerin zahlreiche Unternehmen und Institutionen berät.

Sie arbeitete als Lehrerin, Schulleiterin und Schulrätin. Darüber hinaus hat sie einen Lehrauftrag an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg zum Thema „Diskriminierungssensible Pädagogik im Bildungskontext“.

Gemeinsam mit Marion Kuchenny startete sie den Podcast „Schwarzweiss“, in dem sie über den Umgang mit Alltagsrassismus sprechen. Gerade ist ihr Buch „Raus aus den Schubladen! Meine Gespräche mit Schwarzen Deutschen“ im Orlanda Verlag erschienen. Dafür hat sie mit 12 Schwarzen Deutschen über ihre Erfahrungen im Alltag gesprochen - vom Metzgermeister in Speyer bis zu Gynäkologin in Saarbrücken

Es sind Menschen, die eine individuelle und gesellschaftliche Veränderung möchten, die dazu beitragen wollen, diese Stereotypen und Vorurteile abzubauen und dadurch entstehende Mikroaggressionen oder zumindest Mikroenttäuschungen bei Betroffenen zu verhindern. Ist ein solcher Prozess möglich? Warum ist Ausgrenzung und rassistische Diskriminierung noch immer ein Thema? Und noch wichtiger, wo ist dieses Thema spürbar?

Beginnen wir mit den individuellen Erfahrungen, wie zum Beispiel der Mutter aller Fragen, die jeder Mensch mit einer nicht weißen Hautfarbe oft hört - die Frage nach der Herkunft. Diese Frage wird individuell unterschiedlich beantwortet. Der einen Person gefällt sie nicht, sie fühlt sich durch diese Frage nach der Herkunft ausgegrenzt, nicht als dazugehörig angesehen. Die andere Person nutzt sie als Gelegenheit, mit dem Gegenüber ins Gespräch zu kommen.

Demnach ist es gut zu wissen, welche Gefühle eine solche Frage bei nicht weißen Menschen, die sich in Deutschland beheimatet und zu Hause fühlen, auslösen kann, wenn auch nicht immer auslösen muss. Jemand, der äußerlich nicht deutsch aussieht, dessen kulturelle Sozialisation jedoch in diesem Land stattgefunden hat, der möglicherweise keine andere Kultur kennt, da hier geboren und aufgewachsen, für den ist eine solche Frage buchstäblich entwurzelnd. Schlimm auch, wenn die gegebene Antwort - zum Beispiel Mannheim - von dem Gegenüber nicht als wahr akzeptiert wird. Dieses zu wissen und in der nächsten Konversation zu beachten, wenn überhaupt, dann nach den Wurzeln, statt nach der Herkunft zu fragen, kann zu einem besseren gegenseitigen Verständnis führen.

Es ist ein Thema, über das gemeinsam, offen, ohne Relativierungen reflektiert werden muss

Ähnlich ist es mit dem vermeintlichen Lob, ob der guten deutschen Sprachkenntnisse. Inzwischen sollte es kein exotisches Phänomen mehr sein, dass eine nicht weiße Person muttersprachlich Deutsch sprechen kann. Ebenso sind Bezeichnungen oder vermeintliche Witze, die Nationalitäten herabwürdigen, weder lustig oder salonfähig.

Gehen wir von den individuellen Begebenheiten auf die institutionelle Ebene dieses Themenkomplexes über. Anhand der Bildungssysteme beispielsweise ist zu erkennen, dass der Bereich der Diversität zwar Einzug gehalten hat, jedoch noch nicht in allen Facetten angekommen ist. Hier gilt es das Personal, in der frühkindlichen und der schulischen Bildung ungeachtet aller hierarchischen Ebenen diskriminierungs- und rassismussensibel zu unterstützen, aus- und fortzubilden. Eine Sensibilisierung, die über eine Vorlesung oder Fortbildung während der Studien- oder Arbeitszeit hinausgehen muss. Menschen, die mit dieser Thematik nur rudimentär oder gar nicht in Berührung kommen, sind nicht nur verpflichtet, sondern auch dankbar, Einblicke und Hintergrundinformationen zu erhalten. Nur so werden unbewusste sozialisationsbedingte Gedanken- und Handlungsmuster in das Bewusstsein gerückt und eine Professionalisierung gestärkt.

Ein weiterer Bereich ist das Arbeitsmaterial: Kinder-, Jugend- und Schulbücher, die mit einem diskriminierungs- und rassismussensiblen Fokus evaluiert werden müssen. Um ein Missverständnis an dieser Stelle von vornherein auszuräumen: Mit dieser Forderung ist nicht das grundlegende Umschreiben alter Literatur gemeint, die eine rassistisch diskriminierende Sprache beinhaltet, sondern eine mit den Kindern und Jugendlichen sensible und aufklärende Betrachtungsweise. Und dass in der Zwischenzeit wunderbare kultur- und diversitätssensible Kinder-, Jugend- und Erwachsenenliteratur in den deutschen Buchmarkt Einzug gehalten hat, sei an dieser Stelle betont.

Was hier anhand des Bildungsbereiches beispielhaft skizziert wurde, ist auf alle Arbeits- und Unternehmensstrukturen übertragbar. Racial Profiling, bei dem marginalisierten Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe ungeachtet ihres individuellen Benehmens bestimmte Eigenschaften und Verhaltensweise zugeschrieben werden, ist verbreitet.

Was nun unterscheidet die oben genannten Beispiele der individuellen und institutionellen von der strukturellen Diskriminierung?

Wie soll sich ein nicht weißer junger Mensch fühlen, der trotz vorhandener Qualifikationen, vorliegenden vorbildlichen Bewerbungsunterlagen und aktuellem Fachkräftemangel nach unzähligen Bewerbungsversuchen und offener Stellenausschreibung nicht einmal eine Eingangsbestätigung erhält, von einer Einladung zu einem Vorstellungsgespräch ganz zu schweigen? Als ich über eine solche Situation sprach, erlebte ich als erste Reaktion ein Wegwischen aller Argumente, eine Relativierung: „Nein, mit der Hautfarbe habe das nichts zu tun.“ Die Antwort auf die Frage, mit was es denn zu tun haben könnte, blieb mir mein Gesprächspartner schuldig.

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Es ist die Art des Bewerbungsprozesses, der dazu führt, dass Menschen mit einem sichtbaren und lesbaren Migrationshintergrund, möglicherweise gar nicht erst zu einem Bewerbungsgespräch eingeladen werden - die Teilhabe wird ihnen verwehrt. Würde die Struktur des Bewerbungsprozesses jedoch anonymisiert verlaufen können, so bestünde die Chance, die Qualifikation in den Fokus zu rücken und eine Einladung zu erhalten. Um diese Thematik aus der Ecke der individuellen Entscheidung einer Firma herauszunehmen, bräuchte es eine gesetzliche Vorgabe, die eine generelle Veränderung der Bewerbungsprozesse hin zur Anonymisierung vorgibt. Nicht nur für Menschen mit einer anderen Hautfarbe entstünde somit eine Verbesserung, auch alle anderen, die sich einer oder mehreren Diskriminierungen, etwa aufgrund des Alters, des Geschlechts, der Religion, des äußeren Erscheinungsbildes etcera ausgesetzt fühlen, würden hiervon strukturell profitieren.

Ist Rassismus also kein Thema mehr? Wie anhand dieser wenigen Beispiele aufgezeigt, ist es ein Thema. Ein Thema, über das gemeinsam, offen, ohne Relativierungen reflektiert werden muss.

Neben individuellem Engagement sind auch politische Strukturen von großer Bedeutung

Selbstverständlich kennt jeder jemanden, der trotz nicht weißer Hautfarbe die begehrte Stelle, die Traumwohnung und die exzellenten Bankkonditionen erhalten hat. Es gibt aber auch jene Menschen, die jemanden kennen, die von dem Gegenteil berichten können.

Also heißt es, mit gegenseitiger Empathie, Toleranz, Respekt, Wertschätzung sowie klarer Grenzsetzung diese Situationen gemeinsam und ungeachtet der Hautfarbe zu betrachten. Es gilt, gemeinsam einen gesellschaftlichen Dialog darüber anzuregen, wo und wie zu einer nachhaltigen Veränderung beigetragen werden kann. Damit solche Veränderungsprozesse gelingen können, sind neben individuellem Engagement auch entsprechende politische Strukturen von großer Bedeutung, die dazu beitragen, eine Implementierung zum Wohle eines gleichberechtigten gesellschaftlichen Miteinander zu erreichen.

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