„Frauen wollen deine Kohle, deine Ehre, dein Leben,“ warnt ein selbst ernannter Pick-Up-Artist eindringlich auf TikTok vor manipulativen Frauen. In einem Youtube-Video mahnt eine angebliche Expertin für Narzissmusopfer: „Der Narz verführt dich, um dich zu zerstören.“
In der digitalen Ära sind soziale Medien zu einem Spiegelbild gesellschaftlicher Befindlichkeiten geworden. Sie sind nicht nur Orte der Unterhaltung, sondern auch Schauplätze intensiver Auseinandersetzungen mit Themen wie Beziehungsmustern, Geschlechterrollen und zwischenmenschlichen Dynamiken. Hier prallen unterschiedliche Ansichten aufeinander, oft geprägt von tiefem Schmerz und vehementer Kritik. Unter Instagram-Posts von Beziehungshilfe-Profilen liest man Kommentare wie: „Er hat mich über Jahre emotional verhungern lassen. Er hatte immer Recht. Meine Gefühle zählten nicht.“ Oder: „Wäre ich nicht gegangen, er hätte mich zerstört. Er war wirklich toxisch.“
Die Gastautorin
Casy Dinsing, M.A., ist psychologische Beraterin und Coach. Auf ihrem YouTube-Kanal Better Call Casy folgen ihr mehr als 35 000 Menschen.
Ihre Videos sind bis heute insgesamt über 5 Millionen Mal geklickt worden. Die Liebe zum Denken ließ sie Philosophie studieren, das Interesse am Menschen führte zum Akademiestudium zur Psychologischen Beraterin.
Weiterbildungen in Persönlichkeitspsychologie, NLP, Gesprächs- und Provokativer Therapie runden ihr Profil ab. Casy Dinsing lebt in Nordrhein-Westfalen und in Frankreich.
www.bettercallcasy.de
Die beunruhigende Realität ist, dass diese Inhalte und Kommentare nicht nur alarmierend und spaltend wirken, sie finden zudem enorme Zustimmung und Resonanz. Sie offenbaren sicherlich tiefliegende Ängste und Verletzungen, die in Beziehungsdynamiken entstehen können. Aber sie offenbaren auch die Unfähigkeit oder den Unwillen sich selbst zu reflektieren und sich konstruktiv mit dem Scheitern einer Beziehung auseinanderzusetzen.
Im Social-Media-Alltag sind Begriffen wie toxische Männlichkeit oder toxische Weiblichkeit, genauso wie die Mode-Diagnose Narzisst für Ex-Partner zu Schlagworten verkommen und sie verschärfen den Geschlechterkampf zunehmend: Statt um gemeinsame Verantwortung für eine Beziehung geht es um die Schuld beim Scheitern – und das Internet springt eilfertig jedem zur Seite, der am Ende einer Beziehung einen Schuldigen sucht.
Am Anfang der Beziehung läuft es eher so: Wir verlieben uns und hoffen, jemanden gefunden zu haben, der zu uns passt. Wer aber ist wirklich passend? Halte ich Ausschau nach jemanden, der mich in meinem Leben ergänzt, der ähnlich schwingt? Oder suche ich einen Mann, der meine eigenen Unsicherheiten kompensieren kann? Sehne ich mich nach einer Partnerin, die mir endlich das Gefühl gibt, etwas wert zu sein?
Unsere Auswahlkriterien sind selten nur bewusst. Vielmehr suchen wir oft automatisch, gesteuert von inneren Mustern, die üblicherweise in Kindheit und Jugend entstehen. Wenn es in unseren ersten rund zehn bis 15 Jahren einigermaßen gut läuft, fühlen wir uns gesehen, angenommen und geliebt. Wir entwickeln ein gesundes Selbstbewusstsein und ein positives Selbstbild. In der Partnersuche bedeutet das vereinfacht gesagt, wir suchen uns Menschen, die uns ergänzen und nicht Mängel stillen.
Manchmal läuft dieser Entwicklungsprozess aber auch schief. Wir wachsen bei Eltern auf, die unsere emotionalen Grundbedürfnisse nicht bedingungslos erfüllen können. So lernen wir, dass wir vielleicht besonders lustig oder gut oder angepasst sein müssen, um das zu bekommen, was wir uns als Kinder ersehnen. Damit verlieren wir den Kontakt zu unserem authentischen Ich und entwickeln uns – sofern wir keine regulierenden Erfahrungen machen – zu einem Erwachsenen mit Mangelgefühlen. Diese Mangelgefühle regieren in unsere Partnerwahl mit herein. Dadurch kann es passieren, dass wir einen Typus Mensch anziehen, der eigentlich nicht zu uns passt.
Ein Beispiel: Sehne ich mich in meinem Inneren nach dem Gefühl von Sicherheit, habe aber als Kind gelernt, dass ich diese Sicherheit gebende Zuwendung nur bekomme, wenn ich pflegeleicht und immer gut gelaunt bin, dann entwickle ich vielleicht ein unauthentisches Ich, das nach außen „easy going“ und entspannt wirkt, im Innern aber unsouverän und unsicher ist. Vor anderen zeige ich aber (unbewusst) die coole oder lustige Version von mir, nämlich die, mit der ich in der Kindheit Erfolg hatte, um die ersehnte Zuwendung zu bekommen. Darauf reagieren mögliche Partner, die ihrerseits jemand Witziges und Cooles suchen. Im Verlauf der Beziehung kommt mein authentisches, unsicheres Ich zum Vorschein. Ich reaktiviere meine kindliche Sehnsucht und bin enttäuscht vom anderen, weil der darauf nicht so reagiert, wie ich es mir erhoffe. Was mache ich dann mit dieser Enttäuschung? Mich infrage stellen oder dem anderen Gefühlskälte vorwerfen?
Der andere ist übrigens vielleicht gleichfalls irritiert oder enttäuscht, und beide fragen sich: „Warum bist du nicht, wie ich dich gern hätte?“ Nicht ohne Grund ist dies der Titel meines aktuellen Buches zu Beziehungen. In dieser Frage schwingen Enttäuschung und Desillusionierung mit, doch die Antwort findet sich nicht ausschließlich beim anderen, sondern eben auch bei mir selbst. Im Fokus stehen dabei meine Erwartungen an den anderen. Welche hatte und habe ich? Welche davon sind berechtigt? Welche sind verhandelbar und für welche Erwartungen ist mein Gegenüber schlicht der falsche Adressat?
Wer möchte schon von sich sagen: „Ich bin in der Beziehung geblieben, weil ich es nicht sehen wollte?“ Oder: „Weil ich konfliktscheu und selbstunsicher bin?“ Viel besser klingt: „Ich bin geblieben, weil ich Hoffnung auf Harmonie hatte. Die wollte ich nicht aufgeben.“ Oder: „Er war am Anfang so liebevoll und aufmerksam. Er gab mir das Gefühl, etwas Besonderes zu sein.“ Dies könnte sonst zu der Erkenntnis führen: „Ich bin so unsicher, dass seine Komplimente und Aufmerksamkeiten auf mich wie ein Selbstwert-Booster gewirkt haben. Darauf wollte ich nicht verzichten.“
Es ist einfacher und auf den ersten Blick stabilisierender, auf den Trend in den sozialen Medien aufzuspringen und im starken Gefühl des Verletztseins und der Enttäuschung den anderen als „toxisch männlich“ oder „toxisch weiblich“ abzustempeln. Das in einem thematisch entsprechenden Feed gepostet und mir ist viel Zuwendung und Beifall sicher. Fair ist das meistens nicht, hilfreich schon gar nicht.
Jeder Mensch hat eine einzigartige Geschichte. Die Einteilung in „toxisch männlich“ und „toxisch weiblich“ ignoriert diese Individualität und reduziert Menschen auf klischeehafte Verhaltensweisen. Der oft inflationäre Gebrauch dieser Begriffe erschwert konstruktive Diskussionen über Geschlechterrollen und Verhaltensweisen.
Diese These lässt sich leicht überprüfen. Man muss nur unter einem der typischen „Der toxische Narzisst will dich zerstören“-Videos kommentieren, dass es im Einzelfall vielleicht nicht ganz so schwarz-weiß ist und dass man eventuell ja auch gehen kann, bevor man sich „zerstören“ lässt. Wer das schreibt, sollte sich gut für den Shitstorm wappnen, der sich ad hoc zusammenbrauen wird.
In den sozialen Medien werden Zuspitzungen belohnt. Reflexhaft sind Männer aggressiv und dominant, Frauen hingegen verdeckt manipulierend und emotional instabil. Solche Stereotype fördern eine Wahrnehmungs-Einengung und -Verzerrung, durch die Männer und Frauen leichtfertig mit bestimmten negativen Eigenschaften assoziiert werden, unabhängig von ihren individuellen Verhaltensweisen und Persönlichkeiten. Zudem verstärken sie bereits vorhandene negative Rollenbilder.
In der Folge werden Misstrauen und Feindseligkeit zwischen den Geschlechtern gefördert, anstatt Verständnis, Zugewandtheit und Interesse an der Andersartigkeit des Anderen. Was auch auf der Strecke bleibt, ist die Schuldigkeit, sich selbst zu reflektieren und Verantwortung für sich und sein Handeln zu übernehmen. Toxische Geschlechter-Feindbilder nutzen nur jenen, die mit der medialen Jagd auf vermeintlich giftige Menschen in Wahrheit nur an Klicks und Kasse interessiert sind.
"In sozialen Medien prallen unterschiedliche Ansichten aufeinander, oft geprägt von tiefem Schmerz und Kritik"
"Im Fokus stehen meine Erwartungen an den anderen. Welche hatte und habe ich? Welche sind berechtigt?"
"Was auch auf der Strecke bleibt, ist die Schuldigkeit, sich selbst zu reflektieren"
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