Debatte

Welche Gefahren gehen von der Incel-Szene aus, Herr Neumann?

Der Begriff Incel macht derzeit die Runde, auch wegen der beliebten Netflix-Serie „Adolescence“. Doch was verbirgt sich eigentlich hinter dem Begriff? Ein Gastbeitrag.

Von 
Corina Busalt
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Die Netflix-Serie „Adolescence“ mit dem Hauptdarsteller Owen Cooper brach in Großbritannien alle Rekorde und entfachte eine Debatte über Frauenhass und die Gefahren von Social Media. © picture alliance/dpa/Netflix

Mannheim. Incel ist ein Begriff, der durch die neulich ausgestrahlte Netflix-Serie Adolescence medial diskutiert wurde, aber vorher wohl weitgehend unbekannt war. Es ist eine Abkürzung für involuntarily celibate oder zu Deutsch: unfreiwilliges Zölibat. Es wird als Selbstbeschreibung von Männern genutzt, die sich über ihre Unfähigkeit definieren, sexuelle und romantische Beziehungen mit Frauen aufzubauen. Hinter dieser zunächst harmlos erscheinenden Charakterisierung verbirgt sich aber eine zutiefst frauenverachtende Ideologie, die nicht nur in der digitalen Domäne, sondern auch in der analogen Welt zu Gewalt gegen Frauen führt.

Grundsätzlich handelt es sich bei Incels um eine Online-Subkultur, weswegen die allgemeine Kommunikation untereinander sowie die Verbreitung von Narrativen primär im Internet stattfindet. Genau aus diesem Grund ist ein wissenschaftlicher Zugang auch nur bedingt möglich. Repräsentative Umfragen oder Interviews, das Abfragen von soziokulturellen Faktoren oder die geografische Verortung sind schwer durchzuführen, oftmals fehleranfällig und nur bedingt aussagekräftig.

Es handelt sich um junge, internetaffine Männer

Was sich dennoch konstatieren lässt, ist, dass es sich um junge, internetaffine Männer handelt, die eine hasserfüllte, frauenverachtende Ideologie teilen. Dieses von Incels vertretene Weltbild beruht nicht auf wissenschaftlichen Erkenntnissen, ist durch ein starkes Schwarz-Weiß-Denken geprägt und aufgrund der Verwendung von selbst entwickelten Begriffen auch oftmals schwer durchdringbar für Außenstehende.

Der Gastautor



Felix Neumann ist Referent für Extremismus- und Terrorismusbekämpfung in der Abteilung Internationale Politik und Sicherheit der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS).

Er studierte War and Conflict Studies an der Universität Potsdam und beschäftigt sich bei der KAS seit 2022 mit jeglichen Formen der Extremismusforschung.

Außerdem leitet er den Arbeitskreis Terrorismus und Innere Sicherheit, bestehend aus 25 Expertinnen und Experten , der sich auf aktuelle Entwicklungen und Herausforderungen im Themenfeld der inneren Sicherheit konzentriert.

Zentraler Bestandteil ist die Annahme, dass es eine sexuelle Hierarchie gäbe, die den sexuellen Marktwert einer Person von 1 bis 10 beziffert. Auf Grundlage dessen sind Incels von der sogenannten 80/20-Regel überzeugt, nach welcher Frauen den absoluten Großteil der Männer (80 Prozent) als unattraktiv empfinden und mit niedrigen Ziffern bewerten, wohingegen lediglich 20 Prozent eine höhere Bewertung erhalten. Diesem Argumentationsmuster folgend, befinden sich 80 Prozent der Frauen in einem Konkurrenzkampf um diese 20 Prozent der sexuell anziehenden Männer, während die restlichen 80 Prozent der (als unattraktiv bewerteten) Männer in Konkurrenz um die anderen 20 Prozent der Frauen stehen. Incels selbst sehen sich am unteren Ende dieser Skala und machen dafür vor allem die vermeintlichen Verursacherinnen verantwortlich. Der Feminismus und die damit verbundene Entwicklung, dass Frauen sich eigenständig ihre Beziehungs- und Sexualpartner aussuchen können, sei für diesen Zustand verantwortlich und wird deswegen innerhalb der Incel-Szene abgelehnt.

Die Black-, Red- und Bluepill-Bewegungen

Diese Sicht auf die Welt wird innerhalb der Incel-Community als Blackpill bezeichnet. Sie ist Bestandteil der sogenannten Lehre der Pillen und dient dafür, Menschen klar in verschiedene Gruppen einzuteilen. Allgemein lassen sich drei große Strömungen der Pillenlehre erkennen, es gibt jedoch zahlreiche Zwischenformen. Incels selbst sind Anhänger der Blackpill, da sie an die sexuelle Hierarchie innerhalb der Gesellschaft glauben und aufgrund ihrer Nichterfüllung bestimmter körperlicher Standards untergeordnet seien. Da darunter vor allem Faktoren wie Ethnie, Körpergröße, Körperbau oder auch Gesichtsform fallen, glaubt ein Großteil der Incels, dass ihre Situation als permanent und unveränderbar gilt. Deswegen ist mit dieser Ideologie auch ein extremer Fatalismus verbunden, der sowohl in Gewaltfantasien als auch Depressionen und Suizidgedanken ausschlagen kann.

Die zweite Strömung innerhalb der Lehre der Pillen ist die Redpill. Die Redpill beschreibt die Annahme, dass die moderne (westliche) Welt von linken sowie feministischen Kräften vernichtet wird. Während diese Grundannahme mit der Blackpill übereinstimmt, unterscheidet sich die Schlussfolgerung grundlegend: Anhänger der Redpill möchten gegen diesen Zustand revoltieren, um die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse zurückzudrehen. Aus diesem Grund vertreten beispielsweise Redpill-Influencer in den sozialen Medien, aber auch sogenannte Männerrechtsaktivisten, ganz klar frauenfeindliche Positionen. Obwohl sich das ideologische Fundament der beiden Strömungen ähnelt, aber die Schlussfolgerungen fundamental unterschiedlich sind, stehen einige Incels Anhängern der Redpill Community sehr kritisch, teilweise verachtend gegenüber.

Als Kontrast zu beiden Weltbildern fungiert die Bluepill. Während sowohl die Red- als auch die Blackpill ein weitreichendes Aufwachen gegenüber den „wahren“ Zuständen der Welt beschreiben, ist die Bluepill das genaue Gegenteil. Sie bedeutet, in Ahnungslosigkeit zu leben und beschreibt im Endeffekt den Großteil der Bevölkerung. Incels benutzen den Terminus Bluepill oft mit großer Verachtung, da die allgemeine Bevölkerung als Komplize bei der Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Zustände angesehen wird.

Zahlreiche Gewaltfantasien in kaum moderierten Incel-Foren

Von der Incel-Szene gehen zwei sich gegenseitig beeinflussende Gefahren für Frauen und Männer aus, die in online und analog unterteilt werden können. Mit Blick auf die Online-Domäne gibt es Incel-Foren, in denen Hassbotschaften wenig bis gar nicht moderiert werden. Diskussionen, in denen der Frage nachgegangen wird, welche Gewaltfantasien Nutzer gegenüber Frauen hegen, sind fester Bestandteil solcher Foren. Dadurch, dass es keine anderen Meinungen gibt, wird das kritische Hinterfragen ungemein erschwert, was wiederum eine Radikalisierung intensivieren kann.

Zusätzlich zu den dezidierten Incelforen lassen sich vermehrt Black- und Redpill-Inhalte in den sozialen Medien, beispielsweise auf TikTok, Instagram, YouTube oder X, finden. Diese Inhalte sind für junge Männer noch einfacher zugänglich, weswegen ein Erstkontakt mit der gefährlichen Ideologie problemlos über das eigene Smartphone möglich ist. Aktuelle Ereignisse oder alltägliche Herausforderungen für junge Menschen werden dabei stark emotionalisiert vorgetragen und dienen somit als Einfalltor in die Szene. Einmal angekommen, sorgt oftmals der Algorithmus der jeweiligen Plattform dafür, dass einem immer mehr Videos – teilweise mit gewaltverherrlichenden Inhalten – in die Timeline gespült werden. Die Welt- und Feindbilder verfestigen sich. Eine Radikalisierung – bis hin zu einer Gewaltbereitschaft – ist die potenzielle Folge.

Diese Anschläge waren incel-ideologische motiviert

Dass diese Überlegungen keine reine Theorie sind, verdeutlichen Anschläge, die incel-ideologisch motiviert waren. 2014 tötete der Terrorist Elliot R. in Isla Vista, Kalifornien, sieben Menschen und verletzte 13 weitere Personen – R. hatte zunächst versucht, Zugang zu einem Frauenwohnheim des Santa Barbara Campus der University of California zu erhalten und als ihm dies nicht gelang, attackierte er scheinbar wahllos Passantinnen und Passanten mit Schusswaffen und später mit einem gestohlenen Van. In seinem Manifest begründet er seine Tat damit, dass er Frauen als „Bestien“ herabwürdigt, die in einer zivilisierten Gesellschaft keine Rechte hätten.

Dass die Incel-Szene überaus gewaltverherrlichend ist, lässt sich auch dadurch belegen, dass der Anschlag von Elliot R. nicht kritisiert, sondern ganz im Gegenteil, glorifiziert wurde. Dies führte dazu, dass andere Incels ihn als Vorbild betrachteten: Alek M. tötete im April 2018 acht Frauen und zwei Männer mit einem Van – M. gab vor der Tat in einem Facebook-Post seine Inspiration durch Elliot R. zu erkennen.

Was man gegen die Radikalisierung tun kann

In der Netflix-Serie Adolescence werden zentrale Herausforderungen im aktuellen Umgang mit Incels deutlich, die sich auch mit der aktuellen Forschung decken. Angehörige der Polizei, Strafverfolgung sowie der psychologischen und medizinischen Betreuung müssen besser zum Thema geschult werden, damit ein allgemeines Verständnis für die Ideologie, die Motivlage und die daraus resultierenden Risiken entsteht. Dies würde nicht nur bei der Aufklärung von Gewalt- oder Morddelikten helfen, sondern könnte ebenso in Maßnahmen resultieren, um involviertes Personal vor weiteren physischen und psychischen Angriffen des Täters zu schützen. Erforderlich sind sowohl spezialisierte Beratungs- und Betreuungsangebote für betroffene Frauen als auch Deradikalisierungsprogramme für Männer, die aus der Szene aussteigen wollen.

Grundsätzlich sollte nicht nur reaktiv auf die Gefahr durch Incels reagiert werden, sondern im Bereich der Prävention muss der kontinuierliche Dialog mit jungen Menschen gesucht werden, um für Themen wie Frauenfeindlichkeit, toxische Männlichkeit und die Incel-Ideologie zu sensibilisieren. Eine Mischung aus effizienter Strafverfolgung und präventiven Ansätzen ist der erfolgreichste Ansatz, um dieser Gefahr Einhalt zu gebieten.

Redaktion

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