Nach schwül-heißem Start ist es mittlerweile ein verregneter und zeitweise auch kalter Sommer 2023. Da kommt manch einer schon in Kuschelstimmung, was der Familienplanung sicher zusätzlichen Schwung geben dürfte. Das klingt doch vielversprechend, denkt man sich beim Blick auf die ersten Zeilen einer Nachricht im Mail-Ordner. Nun wäre der Betreff „Sorgt der Regen-Sommer für einen Baby-Boom?“ nachrichtlich wohl freilich eher etwas für das Ressort „Vermischtes“ und wäre allenfalls in Form einer Kolumne im Kulturteil unterzubringen. Aber darum geht es ja im „Zeitzeichen“: kuriose Zeichen der Zeit und ihre kulturelle Relevanz. Also nix wie zugegriffen beim dankbaren Thema Baby-Boom, durch Regenwetter, Stromausfall, Lockdown, Corona-Krise, Fußball-WM oder allerhand anderer vermeintlich die Paarungs- und Fortpflanzungsbereitschaft steigernden Krisen und Vorkommnisse.
Doch, gründliche Lektüre hilft, diese Nachricht ist überhaupt nicht launig. In Wahrheit wurde mit einer vermeintlich bunten Meldung Aufmerksamkeit erregt. Die Mail ist nämlich nichts als blanke Werbung, ein Konzern aus dem Gesundheitswesen weist auf das sehr ernste und fraglos wichtigeThema Kinderwunsch chronisch kranker Frauen hin. Es geht beispielsweise um werdende Mütter mit Multipler Sklerose, Migräne und Autoimmunerkrankungen, für die sich natürlich beim Thema Kinderwunsch, Schwangerschaft und Stillzeit noch mehr Fragen auftun, als sich gesunde Frauen ohnehin schon dazu stellen.
Ist es irgendwie schlimm, ehrenrührig, daneben oder sonst wie unangemessen mit einem launigen Einstieg für eine ernste Sache zu interessieren? Man mag enttäuscht sein, weil man Heiteres erwartete – und bei wissenschaftlicher Werbung landete, das schon. Aber warum sollte man kommerziellen Anbietern ein Verfahren verübeln, das Journalisten und professionelle Wissenschaftsinfotainer aller Sorten längst erfolgreich zum stilistischen Prinzip erhoben haben.
Erwartungen nicht zu erfüllen und den Leser, Konsumenten, Kunden an andere Stelle zu führen ist allenthalben Usus. Und hier muss man sich hinterher, anders als beim Auspacken eines Produkts mieser Qualität, nicht einmal ärgern. Denn es folgt eine Information über Unerwartetes, das hat etwas Gutes, weil Bereicherndes, selbst wenn wir die Info gar nicht oder unter anderen Umständen bestellt hatten. Am Ende lieben wir Überraschungen. Ob es nun stimmt, dass dem aktuellen Regenwetter in neun Monaten ein Babyboom folgt? Keine Ahnung, aber schön wär’s trotzdem.
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