Zeitreise

Vergessene Legende: Autofabrik auf dem Lindenhof

Vor 100 Jahren entstand auf dem Lindenhof, wo die Stadt Mannheim derzeit ihr neues Technisches Rathaus errichtet, eine Autofabrik. Jetzt ist die spannende Geschichte des Gründers Franz Heim, der ein erfolgreicher Rennfahrer war, erstmals dokumentiert worden.

Von 
Peter W. Ragge
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Es war Zufall. Dietrich Conrad begeistert sich für Motorsport. In einem Buch über Monza, die berühmte Rennstrecke im Königlichen Park der italienischen Stadt nordöstlich von Mailand, entdeckt er hinter dem Namen eines Rennfahrers den Zusatz „Mannheim“ – und staunt. Was er dann recherchiert und von Verwandten erfährt, ist „so unbekannt wie faszinierend“, sagt der Maschinenbautechniker und Wirtschaftsinformatiker. Nun hat er „ein weitgehend vergessenes Stück Automobilgeschichte“ als Buch veröffentlicht: das Leben von Franz Heim – das leider tragisch endet.

Geboren wird er am 4. Juli 1882 in Wiesbaden. Zwei Jahre später kommt der kleine Franz mit seinen Eltern nach Mannheim. Gerade 14 Jahre alt, geht er – wie damals üblich – in die Lehre. Nach Jean Pfanz wird er der zweite Lehrling von Carl Benz, der das Auto erfunden und 1886 das Reichspatent dafür erhalten hat.

Weltreise zum Kunden

Vier Jahre dauert die Ausbildung. Dann darf Heim Kunden ihre Autos bringen. Das ist seinerzeit üblich, wird den Käufern doch gleich erklärt, wie man die neuartigen Gefährte bedient und wartet. Franz Heim darf zu so einer Auslieferungsfahrt sogar auf die Kanarischen Inseln starten – damals eine Weltreise. Bei Benz freundet sich Franz Heim mit Oskar Eberle an, einem Techniker. Über ihn lernt er auch dessen Schwester, die Buchhalterin Elsa, kennen – und lieben. Die beiden werden 1908 ein Ehepaar.

1907, als Mannheim groß den 300. Jahrestag seiner Stadtgründung feiert, beginnt die Firma Benz & Cie. Rheinische Gasmotoren-Fabrik AG, sich im internationalen Automobilrennsport zu engagieren. Heim, inzwischen Mechanikermeister, wird Teil des Rennteams und Beifahrer des Starfahrers Rene Hanriot.

„Heim muss also schon hohes Ansehen gehabt haben, um für diesen Posten benannt und von Hanriot akzeptiert zu werden“, nimmt Conrad an. Schließlich gibt es damals im Rennsport keine „Boxenstopps“ mit Heerscharen von Mechanikern wie heute. „Der Beifahrer ist es, der tanken, Reifen wechseln, bei Pannen reparieren, auf die Ölschmierung achten und den Tank mit der Bordluftpumpe unter Druck halten muss“, zählt Conrad die Aufgaben auf. Und das alles bei Tempo 160.

Heim, der mit seiner Frau in der Mannheimer Neckarstadt in der Mittelstraße wohnt, ist weltweit bei Rennen unterwegs – beim französischen Grand Prix, in Italien, Österreich, Belgien, gar in Amerika. Zehn Tage dauert die Überfahrt ab Cuxhaven. Die Pioniertage des Rennsports sind aufregende, spannende, aber auch gefährliche Zeiten, mit Unfällen, Todesfällen und kuriosen Vorkommnissen. So geht dem Duo Hanriot/Heim mal zwei Meter vor dem Ziel das Benzin aus. Als sie Kraftstoff herangeschleppt haben und trotz Verbot wieder auf die von Soldaten gesperrte Strecke fahren, wird gar auf ihre Reifen geschossen.

Heim ist auch als Mechaniker dabei, als Victor Héméry am 8. November 1909 mit dem 200 PS-Rennwagen von Benz in England erstmals in einem Automobil mit Verbrennungsmotor die Geschwindigkeitsgrenze von 200 Stundenkilometer überschreitet, gar 205,666 Kilometer auf der halben Meile schafft. Die Präzision der Tempomessung ist dabei neu: Erstmals weist die Zeitnahme drei Stellen hinter dem Komma auf.

Selbst ans Steuer darf Franz Heim erstmals auf dem Wasser – was komisch klingt. Aber tatsächlich baut Benz auf Initiative von Prinz Heinrich, dem Bruder des deutschen Kaisers, ein Schnellboot mit zwei 200-PS-Motoren für einen Weltrekordversuch an der Côte d’Azur. Heim soll das Boots-Steuerrad übernehmen, schon bei Versuchsfahrten bricht aber das Boot entzwei und sinkt im Mittelmeer. „Sein erster Renneinsatz fällt sprichwörtlich ins Wasser“, so Dietrich Conrad schmunzelnd über Franz Heim, den ein Kohledampfer rettet.

Glückwunsch vom Zaren

Aber dann darf er doch ans Steuer eines Rennwagens. Ab 1910 steigt Heim zum Benz-Werksfahrer auf, startet erstmals bei einem Bergrennen im österreichischen Ries und erhält prompt großes Lob. „Er versteht sich meisterhaft auf die Führung des Volant“ (sprich Lenkrads), würdigt die „Allgemeine Automobilzeitung“ den „Oberwerkmeister“ von Benz und sagt nach dem Sieg voraus: „Heim wird sicherlich noch weitere Lorbeeren pflücken“.

Und tatsächlich: Es folgt eine Siegesserie bei zahlreichen Starts in Europa, und Benz schickt Heim gar als Grand Prix-Fahrer nach New York, während seine Frau hoch schwanger ist. Heim gilt aber als penibel und pedantisch, als – so Dietrich Conrad – „Nervensäge“, der den Teamkollegen derart auf den Geist geht, „dass sie ihn kopfüber in ein schmutziges Ölfass stecken“, wie er herausgefunden hat.

1911 scheidet Heim bei Benz aus, weil die Firma nur noch wenige Starts bei Rennen plant – aber nach einigen Siegen als selbstständiger Rennfahrer wird er doch noch mal verpflichtet. Das beschert ihm ein besonderes Erlebnis. Beim Rennen um den Kaiserpreis quer durch das damalige Russland von St. Petersburg bis zur Krim, wo von 63 gestarteten Wagen ohnehin nur 43 ankommen, erringt der Mannheimer Fahrer den Klassensieg. Zar Nikolas II. überreicht ihn persönlich. „Das Bild davon hing, groß in Gold gerahmt, lange in Heims Haus“, weiß Conrad.

Nach einem letzten Start im November 1911 in Amerika will Heim seine Rennfahrerkarriere beenden. Er eröffnet in der Mannheimer Neckarstadt, in der Käfertaler Straße 7, eine Werkstatt mit Reifenhandel. Der Rückzug vom Rückzug aus dem Rennsport folgt aber schnell. Die französische Firma Lorraine-Dietrich gewinnt Heim als Chefkonstrukteur, und er darf sogar ans Steuer – als Grand-Prix-Fahrer. Erfolg hat er aber nicht. Erst 1912, dann von Victor Hémery gesteuert, gelingen mit dem von Heim konstruierten Wagen Geschwindigkeits- und Ausdauerrekorde. Heim ist derweil nach Mannheim zurückgekehrt, wo er seine Werkstatt von der Neckarstadt auf den Lindenhof verlegt und vergrößert. „Man kann ihn auch als Fahrlehrer buchen“, hat Conrad anhand alter Inserate („Amtlich anerkannter Kraftfahrlehrer“) festgestellt.

Frau führt die Werkstatt

Lieber will Heim aber konstruieren. Er entwickelt einen Kleinwagen mit zwei Sitzen, die hintereinander angeordnet sind. „Der Clou dabei ist, dass er sie seitlich unter das Trittbrett legt“, so Conrad über die Antriebswelle zwischen Motor und Hinterachse. Als der Prototyp fertig ist, bricht 1914 aber der Erste Weltkrieg aus. Heim wird eingezogen, ist einer der ersten deutschen Panzerkommandanten – denn die Reichswehr hat keine eigenen Panzer, sondern fährt nur Beutestücke der Briten. Derweil wird in Mannheim der vierte Sohn geboren. Dennoch führt seine Frau ganz allein die Werkstatt, in der bis zu 30 Arbeiter Militär-Lastwagen reparieren.

Zurück aus dem Krieg erweitert Heim die Werkstatt um ein weiteres Gebäude in der Lindenhofstraße. In seiner Halle sitzt zuvor ein Postkutschenhersteller, aber der sieht keine Zukunft mehr – in den 1920er Jahren beginnt der Autoboom. Heim will dabei sein, gründet am 15. Mai 1920 die „Badische Automobilfabrik Heim & Cie“. Er und seine Frau fungieren mit je einer Million Mark Einlage als Kommanditisten.

„Es sind vom Start weg gut verarbeitete Autos“, sagt Conrad, wobei Heim Sport- wie Tourenwagen baut, Sechssitzer und Limousinen. Zwölf Stück pro Monat fertigt seine Mannschaft – darunter viele ehemalige Benz-Angestellte. Heim präsentiert seine Produkte 1921 auf der Deutschen Automobil-Ausstellung in Berlin und startet beim Eröffnungsrennen der „Avus“, der „Automobil-Verkehrs- und Übungsstraße“, heute Teil der Berliner Stadtautobahn und einst die erste Straße in Europa, auf der ausschließlich Autos fahren dürfen. Vor 200 000 Zuschauern kommt der Mannheimer auf den dritten Platz.

Das zahlt sich aus – denn die Nachfrage wächst so stark, dass Heim seine Produktion erweitert. Dazu pachtet er die stillgelegten Schlinck-Palminwerke im Jungbusch in der Schanzenstraße, fertigt Lenkung und Getriebe selbst, richtet auch eine eigene Gießerei und Lackiererei ein. Bis zu 180 Mitarbeiter beschäftigt Heim. Er geht sogar in Monza an den Start, doch auf halber Strecke bricht ein Getriebebrand aus – das ist das Ende.

Das tragische Ende

Und nicht nur das Ende von Heim als Rennfahrer. Wirtschaftskrise und Inflation machen ihm zu schaffen. Die Firma wird aufgeteilt, die Produktion im Jungbusch konzentriert, während der Gründer sich als stiller Teilhaber zurückzieht und zugleich auf dem Lindenhof das „Heim-Motorenwerks“ für den Bau von Motorrad-Motoren ins Leben ruft.

Aber die neue Firma scheitert, und Heim erleidet einen Herzanfall. Die ursprüngliche Firma Heim erholt sich zwar kurz, aber 1925 „bricht der Absatz komplett ein“, so Dietrich Conrad. Es folgt der Antrag auf „Geschäftsaufsicht“, was man heute Insolvenz nennen würde. Franz Heim indes verkraftet das alles nicht. Am 6. Januar 1926 nimmt er sich, erst 43 Jahre alt, das Leben.

Heims Partner und Schwager Oskar Eberle rettet einen Heim-Sportwagen aus der Konkursmasse und eröffnet damit 1924 eine der ersten Fahrschulen in Mannheim – die als Fahrschule Ralf Rakowski heute noch existiert. „Auch die Nachkommen der Söhne von Heim haben alle irgendwie Benzin im Blut und etwas mit Autos zu tun, leben aber in aller Welt zerstreut“, weiß Dietrich Conrad. Von den rund 600 produzierten Heim-Autos existiert dagegen zumindest nach seinen Recherchen kein einziges Exemplar mehr, alle wurden im Krieg zerstört. Nur ein einziges Kühlergrill-Emblem hat sich erhalten – gut behütet im Benz-Museum Ladenburg.

Autofabrik heim – Früher und heute



  • Der Standort: Wo einst Werkstatt, Fabrik und Wohnhaus von Franz Heim standen, entsteht derzeit das neue Technische Rathaus der Stadt. Es soll Ende 2020 fertig sein.
  • Der Rundgang: Durch den Lindenhof führt ein von Wolf Engelen von der Bürger-Interessengemeinschaft Lindenhof konzipierter historischer Lehrpfad mit über 30 Themenschildern an besonders markanten Orten, den man in eigener Regie ablaufen oder abfahren kann. Ein Schild ist auch der Firma Heim gewidmet.
  • Das Buch: Dietrich Conrad, „Heim& Cie.“, Hardcover, 128 Seiten, 25 Euro, Verlag Waldkirch.
  • Automuseum: Das letzte erhaltene Stück der Firma Franz Heim, eine Kühlergrillplakette, wird im Automuseum Dr. Carl Benz, Ilvesheimer Straße 26, 68526 Ladenburg, gezeigt. Öffnungszeiten Mittwoch, Samstag und Sonntag 14 bis 18 Uhr. Eintritt Erwachsene 5 Kinder 3 Euro.
  • Technikgeschichte: Viele Exponate zur Geschichte der Autorennen zeigt das Technik Museum Sinsheim, Museumsplatz 74889 Sinsheim. Öffnungszeiten montags bis freitags von 9 bis 18 Uhr, an Samstagen, Sonntagen und Feiertagen bis 19 Uhr. Eintritt Erwachsene 17 Euro, Kinder 13 Euro. pwr

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