Tor zur Freiheit

Das Brandenburger Tor in Berlin ist zu allen Zeiten ein Symbol – früher für die Teilung Deutschlands, heute für seine Einheit. Es sieht die dunkelsten Tage unserer Geschichte und ihre fröhlichsten. In den 230 Jahren seines Bestehens hat das Bauwerk wahrlich viel erlebt.

Von 
Konstantin Groß
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Es ist der 23. Juni 1996. Papst Johannes Paul II. durchschreitet in Begleitung von Bundeskanzler Helmut Kohl das Brandenburger Tor von Berlin. Selbst für den an große Momente der Geschichte gewöhnten Mann aus Polen ist dies ein hoch emotionaler Augenblick: Diese Jahrhundertgestalt, die einen großen Beitrag zum Ende des Kommunismus leistet, setzt ihr Zeichen: Es ist vollbracht.

Kein Bauwerk ist so sehr Symbol für Freiheit und Unfreiheit wie das Brandenburger Tor, und das weltweit. „In Berlin sprechen die Steine, und an einigen Orten schreien sie sogar“, sagt 1991 Erhard Eppler, der große alte Mann der SPD. Das Brandenburger Tor ist solch ein Ort.

Dabei ist der Anfang banal. Auf der Straße nach Brandenburg wird es 1734 als eines von 18 Stadttoren errichtet – aus zwei Pylonen, an denen Holztüren befestigt sind, die nachts geschlossen werden. Doch schon 1788 wird es abgerissen und ein neues errichtet. Der schöngeistige König Friedrich Wilhelm II. will dem neoklassizistischen Zeitgeist entsprechend repräsentieren.

Als Vorbild dient der Propyläen, Eingangstor zur Akropolis in Athen. Baumeister Carl Gottfried Langhans reist nie nach Griechenland; als Vorlage dienen ihm Zeichnungen englischer und französischer Reisender. Im Vergleich zum Original werden die Säulen schmaler und höher. Das Bauwerk gerät eindrucksvoll: 20 Meter hoch, mehr als 60 Meter breit. Eine Million Steine werden verbaut. Am 6. August 1791 wird das Tor in Dienst gestellt, indem die Wache ihre Räume bezieht – ohne Einweihung. Überhaupt erhält es erst zwei Jahre danach seine Krönung: 1793 wird eine Quadriga aufgestellt, ein Streitwagen mit vier Pferden, in dem eine Gottheit den Frieden bringt. „Friedensthor“ heißt es daher zunächst. Als Modell für die Göttin dient dem großen Bildhauer Johann Gottfried Schadow die Tochter des am Werk beteiligten Potsdamer Kupferschmiedes Jury. Später erregt die Figur mit ihrer Nacktheit Anstoß, erhält einen Umhang aus Kupfer.

Napoleon klaut die Quadriga

Gerichtet ist das Tor nach innen, dient also nicht der Begrüßung von Besuchern, sondern der Machtdemonstration für die Untertanen. Dem Hof ist denn auch die Durchfahrt in der Tormitte vorbehalten; das bleibt so bis zur Revolution 1918.

Als Preußen den Krieg gegen Frankreich verliert, zieht Napoleon mit seinen Truppen am 27. Oktober 1806 durch das Tor. Zwei Monate später wird die Quadriga abgenommen, zerlegt, in Kisten verpackt und auf dem Wasser nach Paris verschifft. Ursprünglich für einen Triumphbogen Napoleons vorgesehen, landet sie im Louvre. Ein früher Fall von Beutekunst also.

In Preußen wird dieser Raub als Schmach empfunden. Das leere Tor ist eine blutende Wunde. Als die preußische Armee nach dem Sturz Napoleons am 31. März 1814 Paris besetzt, holt Marschall Blücher die Quadriga zurück. Der Transport auf 32 Pferdegespannen gerät zum Triumphzug. Am 7. August 1814 wird sie – im Gegensatz zu 1793 – feierlich eingeweiht. Die Friedensgöttin wird zur Siegesgöttin Viktoria, der Lorbeerkranz zum Eichenkranz, der das Eiserne Kreuz und die Jahreszahl 1813 zeigt, das Jahr der Befreiungskriege gegen Napoleon. „Erst durch diese Vorgänge erhält das Tor seine aufgeladene Symbolik“, konstatiert Historiker Manfred Görtemaker.

Die wird es nun nie mehr los. Im Jahre 1871 sieht das Tor Preußenkönig Wilhelm I. als Kaiser des neuen Reiches, dessen Hauptstadt Berlin jetzt wird. Auch geografisch ist das Tor längst nicht mehr Randlage, sondern im Zentrum der Stadt. Der aufkommende Autoverkehr rast hindurch, fordert als Opfer später auch den Inhaber des angrenzenden Hotels Adlon. 1918 wird der Kaiser gestürzt, und die Revolutionäre hissen auf dem Tor die rote Fahne.

Als 1929 der Leichnam von Au-ßenminister Stresemann durch das Tor gefahren wird, ist das Begräbnis der Demokratie nicht mehr fern. Am Abend des 30. Januar 1933 feiern die Nationalsozialisten mit einem Fackelzug durch das Tor ihre Machtergreifung. Hakenkreuzflaggen verunstalten das Bauwerk. Beim geplanten Bau der Welthauptstadt Germania wäre es gar hinter Monsterbauten verschwunden. Die Bomben auf Berlin übersteht es, auch wenn die beiden Seitengebäude ausbrennen; die Quadriga wird von den Deutschen selbst zerstört, damit sie nicht dem Feind in die Hände fällt. Sowjetsoldaten hissen trotzdem auf dem Tor am 2. Mai 1945 die Rote Fahne. Später, beim Aufstand des 17. Juni 1953, wird sie heruntergerissen.

1945 wird Berlin in vier Sektoren geteilt, das Brandenburger Tor liegt am Rande des Ostteils der Stadt. Dessen Magistrat beschließt 1956 seine Wiederherstellung. Dazu braucht er den 1942 hergestellten Gipsabdruck der Quadriga, der in West-Berlin lagert. Als Zeichen für die Einheit der Stadt stellt der Westen sie zur Verfügung – und wird gelinkt: Der neuen Quadriga fehlen Preußenadler und Eisernes Kreuz.

Noch ist das Tor durchlässig – bis zum 13. August 1961, 3 Uhr früh. Mit dem Bau der Mauer steht es mitten im Todesstreifen, ist Sperrgebiet, kein DDR-Bürger darf sich ihm nähern. Direkt davor verläuft die Grenze zum Westen. Dort entsteht eine Aussichtsplattform, auf der Staatsgäste für die Fernsehkameras ihre Empörung zeigen können. Als US-Präsident John F. Kennedy 1963 erscheint, ist das Tor von der DDR mit roten Stoffbahnen verhängt.

So wird es weltweit zum Symbol der Teilung. Die Briefmarken mit seinem Antlitz werden zum Bekenntnis. BILD Berlin hämmert täglich: „Macht das Tor auf!“, Richard von Weizsäcker sagt es lyrischer: „Solange das Brandenburger Tor geschlossen ist, ist die deutsche Frage offen“, bringt er es auf den Punkt.

1987 spricht US-Präsident Ronald Reagan direkt vor dem Tor: „Mister Gorbachev, open this gate! Tear down this wall!“ – „Herr Gorbatschow, öffnen Sie dieses Tor. Reißen Sie diese Mauer nieder!“ Damals bestenfalls als naiv belächelt, erweisen sich die Worte als prophetisch.

Grenzenlose Freude

Am 9. November 1989 fällt die Grenze in Berlin – zunächst jedoch nicht am Brandenburger Tor. Dieses Symbol ihrer Souveränität will die sterbende DDR noch nicht preisgeben. Seine Öffnung am 22. Dezember 1989 unter dem Jubel von 100 000 Menschen ist ihr letzter Sargnagel.

Bei der Silvesterfeier 1989 wird auf dem Tor getanzt, die Quadriga beschädigt und manches, wie das Zaumzeug, als Souvenir geklaut. Mit der Restaurierung kehrt nicht nur der Preußenadler zurück, sondern auch das Eiserne Kreuz – obwohl auch unter Hitler als Motiv eines militärischen Ordens benutzt.

Das Tor ist nun offen. Und die Nutzung? Jeder Regierungswechsel in Berlin bringt vor Ort eine neue Verkehrsregelung: Rot-Grün will die Sperrung, die CDU eine Öffnung zumindest für Busse und Taxis. Im Mai 2002 entscheidet Bürgermeister Klaus Wowereit (SPD) endgültig: Sperrung für den Autoverkehr.

Doch wie soll der Verkehr von der Straße des 17. Juni auf die Allee Unter den Linden fließen? Verkehrsplaner und Politiker liebäugeln anfangs mit einem direkten Umfahren. Das erledigt sich aber bald. Denn dafür fehlt der Platz. Die ursprüngliche Bebauung entsteht nämlich von neuem: nicht nur die zwei Flügelgebäude des Tores selbst, sondern auch zur Linken die Botschaft der USA, die Akademie der Künste und das Adlon, rechts das Liedermann-Haus und die französische Botschaft.

So sind das Tor und der Platz davor autofrei. Nur Kutschen und Rikschas dürfen durch, und der Bentley der Queen bei ihren Besuchen. Auf der anderen Seite, Richtung Siegessäule, wird nahezu täglich demonstriert und regelmäßig gefeiert – nach dem Fußball-WM-Sieg 2014 oder alljährlich auf der Silvesterparty. Demokratische Willensbekundung und Fröhlichkeit auf einem Terrain, das lange von brauner und roter Diktatur geprägt wird – welch schönere Symbolik kann es geben für das wiedervereinigte Deutschland.

Mehr Infos zum Thema 30 Jahre Deutsche Einheit gibt es unter morgenweb.de/einheit

  • Kunst: Was oft übersehen wird: Das Tor ist auch ein großes Kunstwerk – nicht nur dank der Quadriga mit der Siegesgöttin (Bild: dpa). In den Nischen stehen Skulpturen der Götter Mars und Minerva, an jeder Seite der fünf Durchgänge befinden sich Reliefs mit Motiven der griechischen Heldensagen, das Attika-Relief an der Front unmittelbar unterhalb der Quadriga zeigt Figuren aus der griechischen Mythologie.
  • Quadriga: Nur eine der vier Pferdefiguren von 1793 hat den Krieg überstanden. Sie ist im Märkischen Museum zu besichtigen.
  • Besinnung: Im nördlichen Torhaus befindet sich seit 1994 ein Raum der Stille. Er bietet einen Ort der Einkehr inmitten der Großstadthektik – für alle Religionen.
  • Film: Wie das Tor vor dem Mauerbau vom August 1961 aussah, das zeigen zahlreiche kurz zuvor gedrehte Szenen aus dem Spielfilm „Eins, zwei, drei“ von Billy Wilder mit Horst Buchholz.
  • Dokumentation: Folge „Brandenburger Tor“ aus der Serie „Geheimnisvolle Orte“ am 2. Oktober, 21.15 Uhr, und am 3. Oktober, 23 Uhr, jeweils auf „tagesschau24“. -tin

 

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