Er singt „Au-wauwau-wauwau-wauwau-wauwau-wauwau“, und genau das trifft das Lebensgefühl. Im vor einem Jahr zum Marchivum, Mannheims Archiv und Haus der Stadtgeschichte, umgebauten Ochsenpferchbunker hört man plötzlich Joachim Schäfer. Als „Joakin“ gilt er bereits 1975 als populärer, gefragter Musiker – das ist er, inzwischen mit dem Bloomaulorden geehrt, heute noch mehr. Damals stammt von ihm das offizielle Lied der Bundesgartenschau, mit dem zweiten Titel „Hey Unkel Willy“ auf Vinyl gepresst.
„Mensch Meier, wer hätte das gedacht, Du hast Dich über Nacht schön gemacht“, bescheinigt Schäfer in dem Lied seiner Heimat. So wertet es rückblickend auch Andreas Schenk, einer der Ausstellungsmacher vom Marchivum: „Die Bundesgartenschau war viel mehr als ein Event, mehr als eine Blumenschau. Kaum ein anderes Ereignis prägte Mannheim so stark, es war ein enormer städtebaulicher Aufbruch!“
Erste Wirtschaftskrise
Dabei herrscht zunächst Lethargie im Land, auch in der Stadt. 1973 kann man, wegen der Sonntagsfahrverbote durch die Ölkrise, auf der gerade erst fertiggestellten Carlo-Schmid-Brücke einen Spaziergang machen. 1974 meldet das Strebel-Werk, ein großer Heizkörper-Hersteller auf der Friesenheimer Insel, völlig überraschend Konkurs an. Viele Familien sind von Arbeitslosigkeit betroffen, die Bevölkerung von der Agonie der ersten großen Nachkriegs-Wirtschaftskrise erfasst.
Aber am 18. April 1975 – da ist das alles vergessen. Plötzlich blühen nicht nur 30 000 Tulpen auf, sondern gefühlt ganz Mannheim. Der damalige Oberbürgermeister Ludwig Ratzel begrüßt Bundespräsident Scheel mit Chef-Hostess Elke Ehrenfeld, ganz im gelben Kostüm, sowie Fred Reibold, dem „Jäger aus Kurpfalz“, als das Staatsoberhaupt auf dem Flugplatz Neuostheim aus dem Grenzschutz-Hubschrauber steigt.
Der „Jäger aus Kurpfalz“
Reibold verkörpert diese Aufbruchstimmung, dieses Nutzen einer großen Chance wie kein anderer. Erst Lagerist, dann kaufmännischer Angestellter, arbeitet er bei den Strebel-Werken. Als sie 1974 dichtmachen, steht er über Nacht auf der Straße. Aber mit seiner Gitarre hat er immer schon bei Familien- und Vereinsfeiern gespielt. Dabei entdeckt ihn Hannelore Dorner, eine der Mitarbeiterinnen der ersten Stunde der Bundesgartenschau. Von ihr erfährt er, dass ein Maskottchen gesucht wird – und bewirbt sich. Er lernt reiten und geht in den Wald, um das Blasen auf dem Jagdhorn zu üben. Reibold ist nicht nur vor und während der Gartenschau, sondern lange danach mit liebevoll-herzlichem Charme als Symbolfigur der Stadtparks unterwegs – bis zu seinem Tod 2013 im Alter von 78 Jahren.
Sein damals im Nationaltheater eigens angefertigtes Kostüm und die sympathisch-gelbe Kleidung der Hostessen – sie bilden einen ersten Blickfang der 570 Quadratmeter umfassenden Ausstellung im Marchivum. Viele Mannheimer haben sie mitgestaltet, Plakate, Programmhefte, Souvenirs zur Verfügung gestellt – vom Schlüsselanhänger bis zur besonderen Spardose in Form des „Jägers aus Kurpfalz“. „Es war ein überwältigender Erfolg und hat uns gezeigt, dass die Bundesgartenschau in sehr positiver Erinnerung ist, denn sonst hätten die Leute die Sachen nicht so lange aufbewahrt und uns so freudig zur Verfügung gestellt!“, hebt Andreas Schenk hervor.
Daher begegnet man noch heute überall dem „Jäger aus Kurpfalz“. Er wird nämlich nicht allein von Fred Reibold verkörpert, es gibt ihn auch als von Loriot (Vicco von Bülow) gezeichnetes Männchen – mit Vorderlader-Flinte, aus der eine Margerite sprießt. Ihn zieren fünf Millionen Prospekte, sechseinhalb Millionen Brief-Aufkleber, 500 000 Plakate sowie eine bunte Vielfalt von Souvenirs. „Bundesgartenschauen waren seit 1951 alle zwei Jahre, aber ein derart umfangreiches, modernes Marketingkonzept hat erstmals Mannheim 1975 praktiziert“, so Andreas Mix, Marchivum-Abteilungsleiter.
Aber dieses Marketing zahlt sich aus, weckt Vorfreude, schürt die Spannung. Schon vor der Eröffnung sind 150 000 Dauerkarten verkauft; am Ende werden es 190 000 sein. Allein in den ersten drei Tagen strömen 200 000 Besucher, schon in weniger als einem Monat eine Million, insgesamt dann 8,1 Millionen Besucher – so viel wie noch nie und nie mehr danach bei einer Bundesgartenschau. Er kommt also, der „Strom der Besucher“, den Walter Scheel am Eröffnungstag voraussagt. Schließlich müssen an diesem Morgen die Tore schon geöffnet werden, noch ehe das Staatsoberhaupt die Eröffnungsworte gesprochen hat.
„Städtechaos überwinden“
Er tut das im Rosengarten. Davor spielt die Dinkelsbühler Knabenkapelle, stolze Fahnenschwinger aus Florenz werfen akkurat-geschickt die wehenden Tücher empor und fangen sie wieder. Im erst 1974 fertiggestellten Mozartsaal, vor 2000 geladenen Gästen, erheben über 500 Sänger der von Gotthilf Fischer dirigierten Fischer-Chöre ihre Stimmen – ein erhebender Moment, den keiner vergisst, der ihn miterlebt hat.
Walter Scheel verteidigt, gerade angesichts wirtschaftlicher und sozialer Probleme, die Ausgaben von letztlich 65 Millionen D-Mark für die Bundesgartenschau nachdrücklich. „Wir suchen nach keiner Entschuldigung dafür“, betont er. „Wir wollen klarstellen, dass ein Unternehmen dieser Art weit mehr mit Sozialpolitik im umfassenden Sinne als mit Befriedigung romantischer Gefühle zu tun hat“, unterstreicht er: „Bei Bundesgartenschauen geht es nicht nur darum, Blumen zu zeigen, eine Stadt mit Grün zu verschönern. Es geht letztlich darum, das Städtechaos zu überwinden und Menschen, die auf engem Raum zusammenleben, den Zugang zur lebensspendenden und lebenserhaltenden Natur zu schaffen“, ruft Scheel aus und bescheinigt Mannheim, es sei „ein bilderbuchartiges Beispiel“ für den nötigen Wandel und diese Bundesgartenschau „ein wesentlicher und entscheidender Schritt auf dem Weg zum modernen Mannheim“, so Scheel.
Das Staatsoberhaupt beginnt nach dem Festakt im Rosengarten seinen Gartenschau-Besuch im Herzogenried, wo Brieftauben in die Lüfte steigen. Dann steigt er in den Aerobus – eine moderne, neuartige, umweltfreundliche Seilbahn, die damals Schlagzeilen macht. Besonders sind Pannen in Erinnerung, aber letztlich steht sie nur 20 Stunden still, von 1850 Betriebsstunden. Leider bleibt sie nur ein Experiment.
Sie bringt Scheel zum Luisenpark. Dort fährt er nicht „hoch auf dem gelben Wagen“, den er so oft besungen hat, sondern Gondoletta – Boote mit gelbem Dach auf dem Kutzerweiher. Er streichelt im Park die Kinder und macht die (damals wenigen) Sicherheitsbeamten nervös. Aber das Gartenschau-Erfolgsduo aus Werner Haas (technischer Geschäftsführer, später Hochbauamtsleiter) und Karl Eisenhuth (kaufmännischer Geschäftsführer und dann bis 1992 alleiniger Stadtpark-Chef) ist hoch zufrieden. Fünf Jahre dauern ihre Vorbereitungen. Als abends über der Seebühne ein Brillantfeuerwerk gezündet wird, ist es das Ende eines wunderschönen Tages – und der Beginn eines 185 Tage währenden, grandiosen Fests.
Stelldichein der Stars
„Alle Stars der damaligen Zeit sind da“, verweist Andreas Mix auf das Veranstaltungsprogramm, das Hannes Maier, zu der Zeit Verwaltungsdirektor des Nationaltheaters, organisiert – über 1800 einzelne Events an 185 Tagen. 77 Folkloregruppen aus 26 Ländern treten auf – und das zu einer Zeit, als die Welt noch nicht so globalisiert ist wie heute.
Keine der Showgrößen der 1970er fehlt: Marika Rökk, Karel Gott, Hans Rosenthal, Rudi Carell, Ivan Rebroff, Inge Brück, die Berliner Philharmoniker unter Herbert von Karajan. Zahlreiche Fernsehshows werden aus Mannheim ausgestrahlt – allein den „Blauen Bock“, live aus der Multihalle, sehen bundesweit 20 Millionen Menschen. „Mannheim war so präsent wie noch nie zuvor in der ganzen Bundesrepublik“, so Andreas Mix. Mehr als 20 000 Reisebusse und 150 Sonderzüge steuern zur Gartenschau die Quadratestadt an.
Und die Parks werden zum Paradies für Kinder: 20 Spielplätze entstehen neu, „alle sehr populär und gut angenommen“, so Andreas Mix. Einer, das Höhlenlabyrinth im Herzogenried, wird nach Entwürfen einer Schulklasse erstellt – eine frühe Form der Partizipation, als das Wort noch nicht erfunden ist. Unvergessen das Ballgebirge „Babbelplast“: Die auf der Freizeitwiese im Luisenpark unter einem Netz aufgehäuften riesigen Bälle zum Klettern und Toben sind der Hit. Da sie nach wenigen Tagen die Luft verlieren, wird schnell eine zweite, stabilere Version angeschafft, die viele Jahre hält.
Und nicht nur die damals so beliebten Spielplätze gibt es noch heute von 1975, auch die Gondoletta, die Seebühne (wenngleich vernachlässigt) und die Multihalle (wenn auch sanierungsbedürftig). Zwei Grünflächen mit zusammen 70 Hektar bleiben der Stadt neu gestaltet erhalten, der Luisenpark (um die „Rennwiese“ erweitert) und der zuvor arg heruntergekommene Herzogenriedpark. 690 000 Kubikmeter Erde werden dazu bewegt, 50 200 Quadratmeter neue Wasserflächen geschaffen, 557 Bäume gepflanzt, unzählige Blüten zum Blühen gebracht.
Wichtige Bauten entstehen
„Wichtige Bauten entstehen oder werden in die Wege geleitet, ganz Mannheim ändert sich“, blickt Andreas Schenk zurück. Das beginnt bei den Planken, die sich 1975 zur Fußgängerzone wandeln, führt über das 1975 eröffnete Collini Center und die damals geplante, erst später realisierte Bebauung des Neckarufers Nord bis zur Errichtung des Fernmeldeturms oder dem neuen Wohngebiet Herzogenried mit Gesamtschule und Kinderhaus. In dem läuft während der Gartenschau die von Heinz Haber organisierte Weltraumausstellung mit echtem Mondgestein – Initialzündung für den Bau des (dann aber erst 1984 realisierten) Mannheimer Planetariums.
„Wohnen, Bilden, Arbeiten, Erholen in der Stadt“ war der, so Mix, „programmatische Anspruch“. „Zurück bleibt nicht nur das Erlebnis einer rauschenden Ballnacht, sondern die Gewissheit, dass die Bundesgartenschau 1975 die Stadt weiter nach vorn gebracht hat und den Bürgern und Besuchern ein Fest bescherte, das Mannheim in seiner Wirkung nach innen und außen veränderte“, schreibt der damalige Gartenschau-Pressesprecher, Klaus E. R. Lindemann, in seinem Buch „Ein Fest verändert eine Stadt“. Daran haben die Marchivum-Ausstellungsmacher angeknüpft – sie blicken aber auch voraus, was die nächste Bundesgartenschau in 2023 bringen soll.
Info: Video und Dossier unter www.morgenweb.de/buga
Die Ausstellung
- Ausstellung: „BUGA 75. Ein Fest verändert die Stadt“ bis 18. August im Marchivum im Ochsenpferchbunker, Archivplatz 1, 68169 Mannheim.
- Eröffnung: Samstag, 23. März, 13 Uhr, Eintritt ist an diesem Tag frei.
- Öffnungszeiten: Dienstag, Donnerstag bis Sonntag 10 bis 18 Uhr, Mittwoch 10 bis 20 Uhr.
- Eintritt: fünf Euro, ermäßigt drei Euro. Für Jahreskarteninhaber der beiden Mannheimer Stadtparks gilt ermäßigter Eintritt.
- Freier Eintritt: Sonntag, 24. März, und Internationaler Museumstag am 19. Mai, jeweils 10 bis 18 Uhr. Um 14 und 16 Uhr findet jeweils eine kostenlose Kuratorenführung statt.
- Öffentliche Kuratorenführungen: 6.4., 21.4., 4.5., 1.6., 29.6., 14.7., 4.8., 17.8., jeweils 15 Uhr, drei Euro.
- Zeitzeugengespräche: 16. April und 16. Juli, jeweils 18 Uhr.
- Vorträge: 11. April, 18 Uhr, „Geschichte der Bundesgartenschau“, 9. Mai, 18 Uhr, „Bundesgartenschau Mannheim 2023“, 14. Mai, 18 Uhr, „Das Wunder von Mannheim“ zur Multihalle, 21. Mai, 18 Uhr, „Stadtentwicklung Mannheim“, 25. Juni, 18 Uhr, „Klimaökologie in Mannheim“, 2. Jul, 18 Uhr, Zur Gartenbauausstellung 1907, 8. August, 18 Uhr, Filmabend mit privaten Aufnahmen.
- Gruppenführungen: bis zu 25 Personen, 60 Euro zzgl. Eintritt. Anmeldung bei Hannah Serfas, E-Mail: hannah.serfas@mannheim.de, Tel. 0621 / 293-7778.
- Anfahrt: Parkplatz in der Bunsenstraße. Die Parkgebühr von drei Euro muss passend bereitgehalten werden. Behindertenparkplätze in der Fröhlichstraße. In der Nähe halten Straßenbahn (Linie 2) und Bus (Linien 53 und 60). pwr
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