Mannheim. Eine Seniorentanzgruppe der Arbeiterwohlfahrt will mit selbstgebastelten Kostümen als „Reise um die Welt“ bei einem Seniorennachmittag auf einer Nebenbühne der Bundesgartenschau auftreten. Aber die Kulturabteilung hat in letzter Minute entdeckt, dass ja hier „fremde Kulturen“ auf „klischeehafte Weise“ „angeeignet“ würden - und das ginge ja gar nicht.
Im Geiste gut gemeinter Humanität entschied man sich „einvernehmlich“ zu einer Korrektur. Es galt, das Schlimmste zu verhindern: Dass die Buga als unmodern dasteht. Aber die Aktion landete auf der Frontseite der „Bild-Zeitung“ und erlangte bundesweit negative Berühmtheit. Ein Shitstorm sogenannter „normaler Bürger“ brach los.
Ein merkwürdiges Kulturverständnis ist da entstanden, weichgespült und machtbewusst zugleich
Das kleine Buga-Drama steht nicht allein. Weil das Wort „Neger“ vorkommt in einem Roman von 1951 („Tauben im Gras“ von Wolfgang Koeppen), der Rassismus beklagt und zur Schullektüre gehört, beschwerte sich ein 20-jähriger Schüler kürzlich, dass ihn dieser Roman aus seinem Wohlbefinden gerissen habe. Das schreckliche Wort sei ihm ohne Warnung vor Augen gekommen und das in der Schule, die doch ein geschützter Bereich sein müsse… Man reibt sich die Augen und hofft, dass der junge Mann nie Nachrichten schaut.
Ein merkwürdiges Kulturverständnis ist da entstanden, weichgespült und machtbewusst zugleich. Es ist ein Phänomen der reichen Gesellschaften und die Aktiven dieser Bewegung sind die Besser-Gebildeten und Besser-Gestellten und sie sind selten älter als 40. Was manchen wie eine Verweigerung von Wahrheit und Wirklichkeit des Lebens erscheint, gilt ihnen als unbedingter Einsatz für eine Kultur der Humanität. Keine Kultur soll sich erhaben fühlen über andere Kulturen, keine Mehrheit darf ihre Minderheiten diskreditieren.
Kultur der "Wokeness"
Kein Mann, besonders wenn er Chef ist, soll seine Macht ausnützen, überhaupt sollen wir alle in gegenseitigem Respekt und möglichst ohne schroffe Auseinandersetzungen miteinander leben. Wer wollte diesem schönen Wunschbild von Gesellschaft widersprechen? Und so hat sie sich als Kultur der „Wokeness“, der Wachsamkeit gegenüber jeder Form der Diskriminierung, mit Eifer und Überzeugung ausgebreitet, begünstigt durch die vermeintlich freie Kommunikation der Social-Media im Internet - und mit großem Eifer besonders auch an unseren Universitäten.
Geradezu erschlagender Einfluss
Diese Bewegung ist ein weltweites Phänomen, das in einem äußerst merkwürdigen Verhältnis steht zu den ziemlich mörderischen Kriegen und Unmenschlichkeiten überall. Da niemand den Zielen dieser Bewegung widersprechen will, ist diese meinungsführende Welle der Übereinstimmung von geradezu erschlagendem Einfluss. Sie hat sich Freiheit und Menschlichkeit auf ihre Fahnen geschrieben, ist aber doch in zunehmendem Maße eher anmaßend und demokratiefeindlich, ja diktatorisch unterwegs.
Aber wenn, dann wäre es eine Diktatur der Wohlmeinenden. Denn zum Wohle aller werden ja die Kostüme der Seniorentanzgruppe der Arbeiterwohlfahrt zensiert und ähnlichen, sagen wir mal „volksnahen“ Kulturäußerungen mit neuem Misstrauen begegnet. Der Ballermann-Barde Ikke Hüftgold erklärte, nun auf der Buga auftreten zu wollen -und zwar „mit allen kulturellen Aneignungsgewändern, die er finden kann“. Man muss lachen. Obwohl es einem als „Kulturmenschen“ eigentlich verboten ist, das lustig oder gar erfreulich zu finden.
Was ist mit der „Freiheit der Kunst“, in der man eigentlich und ganz bewusst machen darf, was man will
Würde man es ernst meinen mit der „Wokeness“, der Toleranz, dann müsste man doch eigentlich auch die Meinung dieses Barden gelten lassen? Aber so herum gilt die Regel nicht. Mal angenommen, die Awo-Damen hätten vorgehabt, in einer interaktiven Rap-Oper aufzutreten und die Buga-Leitung hätte dies mit der Begründung, das sei zu avantgardistisch für die Buga abgelehnt -die Leitung hätte diesen „Angriff auf die Freiheit der Kunst“ nicht überlebt.
Die geplanten Kostüme mit Sombreros und Kimonos zu verbieten und ihre Überarbeitung zu verlangen, damit sie nicht so „echt“, also „kulturell aneignend“ aussehen, fand man, sei dagegen ganz in Ordnung. Was ist mit der „Freiheit der Kunst“, in der man eigentlich und ganz bewusst machen darf, was man will - jedenfalls solange keine lebende Person geschädigt wird? Ist sie nicht mehr so wichtig, da solche Freiheit, die die Kunst sich nimmt, ohnehin nicht unserer Lebenserfahrung entspricht? Schließlich wissen wir, dass Unverschämtheiten von den anderen, und seien es nur die Nachbarn, im Alltag immer abgestraft werden. Warum sollte dann die Kunst machen dürfen, was sie will? Ist das der Grund dafür, dass man es nicht so tragisch findet, künstlerische Äußerungen zurechtzuweisen, wenn sie moralisch anstößig sind, und zwar je nachdem, was man gerade in welcher sozialen Schicht zu welcher Zeit anstößig findet?
Weit entfernt von religiösem Eifer?
Die „Cancel Culture“, also die durchs Internet befeuerte Meinungsmache der „Gutmeinenden“ gegenüber allen, die sich vermeintlich fehlverhalten haben, hat zugleich antidemokratische Züge. Sie akzeptiert das Denken der Mehrheit nicht, fühlt sich erhaben über die Regeln der Demokratie, fühlt sich in einem „höheren“ Recht, uns zu zeigen, wo es langgehen muss.
Es ist wie bei den an der Umweltzerstörung Verzweifelnden, die sich auf der Straße festkleben, um uns zum Einhalten zu zwingen. Wie richtig es ideell auch sein mag, wie weit ist es entfernt von religiösem Eifer? Und wie weit ist die Kulturkontrolle noch davon weg, Leute an den Pranger zu stellen und deren Werke zu verbrennen, und sei es auch nur virtuell?
Weltumspannendes Machtgeflecht aus Interessen
Wir reden von einem Phänomen der Kultur der reichen Länder und darin der Oberschichtjugend. Seit Jahrzehnten ist diese Schicht von einem Zeitgeist bestimmt, der besagt, dass jeder seinen eigenen Weg gehen müsse und das immer für sich alleine. Daraus hat sich ein fast kultisches Umkreisen des Egos entwickelt, eine tiefe Einsamkeit des Einzelnen. Zugleich wurde das Ohnmachtsgefühl immer größer angesichts der gewaltigen Aufgaben der ökologischen Wende, angesichts eines weltumspannenden Machtgeflechtes aus Interessen und einer gesellschaftlichen Mehrheit, die sich nur schwer bewegen lässt.
Also muss gelingen, was dieser Jugend lange so ausgeschlossen erschien: Sich mit anderen zu verbinden, gemeinsam zu agieren. Vielleicht ist also die Angst davor genauso groß wie zugleich die Sehnsucht danach, in einer Gemeinschaft aufzugehen? Vielleicht ist der Wunsch einfach riesig, sich als „Sippe“ zu fühlen, vereint im wohligen Gefühl einer tiefen Gemeinsamkeit?
Die Empörung allerorts über Kulturphänomene des „alten Denkens“, erkennbar in dem Ausruf „Das geht ja gar nicht!“ - sie wäre sozusagen das wechselseitige Erkennungszeichen, der Beweis „dazuzugehören“, die willkommene Gelegenheit für ein heimatliches „Herdengefühl“? Wenn das so ist, dann sollte man eher Mitleid haben als einen Grund zu sehen, böse zu werden. Und das ist auf jeden Fall besser.
Dr. M. Kötz ist Intendant des „Festival des deutschen Films Ludwigshafen am Rhein“ und Präsident der „Freien Akademie der Künste Rhein-Neckar“ e.V.
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Mannheimer Morgen Plus-Artikel Kommentar Ikke Hüftgold und das Kostümverbot auf der Buga: Klischee olé