Ich bin fremdgegangen. Also in fremde Kantinen gegangen. Was ich dort erlebt habe, hat meinen Eindruck nur betoniert: Ich sitze im angeblichen Land der Dichter und Denker, tatsächlich aber unter schnitzelbratenden Teutonen fest, irgendwo zwischen bienenstockhafter Beweglichkeit deutscher Bürokomplexe, geschmacklosen Vorgärten und dem lethargischen Fluss zu kurzer Mittagspausen. Kantine. Mahlzeit. Rülps. Ups. Hier existiert ein Universum eigener Gebote und Gesetze, Gerüche und Gerichte. Montag: Cordon bleue vom Schwein. Dienstag: Fleischpflanzerl vom Schwein. Mittwoch: Bavarian Burger vom Rind. Donnerstag: Backhendl vom Hendl. Freitag: Seelachsfilet vom (idealiter) Seelachs. Bon appetit!
Es gleicht einem Wunder! Der Deutschen liebstes Chappi, Schnitzel, Currywurst, Frikadelle und Spaghetti Bolognese – das hat bei meinem Seitensprung Pause. Und irgendwo, ganz unten rechts auf dem Speiseplan neben dem Kleingedruckten mit Allergenen und Zusatzstoffen, habe ich sogar was Vegetarisches entdeckt: Blumenkohl-Romanesco-Linsen-Curry mit Tofu, Vollkornreis und Cashewkernen. Das klingt nach langem Kautraining.
Ich bin ja kein Vegetarier. Ich gehöre zu den 18 Prozent Flexitariern, also zu denen, die irre gern Fleisch essen, aber masochistische Züge haben und stattdessen Blumenkohl-Romanesco-Linsen-Curry mit Tofu, Vollkornreis und Cashewkernen nehmen.
Manchmal träume auch ich, ja, I have a dream: Die Leute würden in der Kantine „Yes, we can change!“ singen, plötzlich schöben sich bunte Bowls vors Auge, als hätte eine hippe Start-up-Influencerin am Herd die Macht übernommen, Avocados spielten mit Erdnüssen, Kichererbsen tanzten Salsa, und der Grünkern zeigte der gold-panierten Sau den ausgestreckten Sojakeimling. Kann man von Gemüseliebe krank werden? Dr. Blumenkohl-Romanesco meint: Nein. Okay, auch an Martin Luther Kings Traum wird noch gearbeitet.
Meine Recherche war spannend. Wer weiß schon, dass zwölf Prozent der Teutonen sich „Low-carb“ oder „No-carb“ ernähren, sprich: ohne Pasta, Pommes und Basmatireis. Bisweilen entstand fast kriminalistischer Ahnungsdrang, wie man ihn aus der 3. Fußballliga kennt (da, wo der Waldhof das Abo auf rote Karten hat). Das „Manager Magazin“ titelte im Mai: „Kantinen-Ranking – Spaghetti vorn, Currywurst rutscht ab“. Das klingt wie: Italien ist Weltmeister, Deutschland mit Ach und Krach Letzter.
Apropos Schland. Schon beim Betreten dieser Speisebetriebsstätte wurde mir das Deutsche klarer als nach Betrachten der Bismarckstatue: Es gibt dieses tiefe Bedürfnis nach Routine. Schnitzel. Currywurst. Spaghetti Bolognese (die naturgemäß nirgendwo weniger italienisch schmecken als in unseren Kantinen). Frikadellen (die in Wahrheit fabrikgepresster Einheitsbrei mit Einheitsbratensoße sind, weil Deutsche alles und jeden gleich machen wollen). Ich gehe nie wieder fremd, sondern nur noch mit Alya, Bela und Caro in die Kaschemme unseres Vertrauens.
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Mannheimer Morgen Plus-Artikel Kolumne #mahlzeit Fremdgehen mit der Bowl
Unser Kolumnist Stefan M. Dettlinger auf Abwegen: Sein Abenteuer in deutschen Kantinen enthüllt das Geheimnis um Schnitzel und Currywurst.