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Die Kritik an kultureller Aneignung enthält auch Widersprüche

Von kultureller Aneignung ist jetzt viel die Rede. Der moralische Impuls hinter der Kritik an ihr ist redlich und verständlich, er legt aber auch Widersprüche nahe

Von 
Thomas Groß
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Serbe mit Sombrero: Regisseur Emir Kusturica vereint in seinen Filmen Gegensätze nicht ganz korrekt – und bleibt sich als Musiker im „No Smoking Orchestra“ treu. © Bott / dpa

Der 1999 verstorbene Schlagersänger Rex Gildo machte in späten Jahren durch einen kuriosen Prozess von sich reden. Ein Veranstalter warf ihm vor, Erwartungen nicht erfüllt zu haben, denn das für seine „Fiesta Mexicana“ konstitutive „Hossa“-Rufen sei nicht kräftig genug erschallt. Heute sorgte das Lied vielleicht wegen anderer Aspekte für Schlagzeilen. Rex Gildo singt darin nämlich auch, er grüße Mexiko mit der vermeintlich landestypischen Kopfbedeckung eines Sombrero.

War das auch schon ein Fall von kultureller Aneignung? Dieses etwas vage Vergehen warfen bekanntlich Verantwortliche des Kulturprogramms der Buga 23 einer Mannheimer Seniorinnengruppe und ihrer dort geplanten Tanzdarbietung vor. Dabei sollten diverse Kulturkreise durch Accessoires wie eben einen Sombrero oder auch einen Kimono repräsentiert werden.

Der Fall machte bundesweit Schlagzeilen und wurde als Beleg für die These genommen, dass heute zunehmend Denk- und Äußerungsverbote ausgesprochen und die Freiheit der Meinung und Entfaltung reglementiert würden. Die Wochenzeitung „Die Zeit“ widmete der Frage einen Schwerpunkt, ob solches besonders Kunstschaffende und deren obligatorische Kunstfreiheit einschränke. Die baden-württembergische Schulpolitik sah sich mit Kritik konfrontiert, weil in dem als Abitur-Lektüre vorgesehenen, literarisch bedeutsamen und die Nachkriegsrealität spiegelnden Roman „Tauben im Gras“ von Wolfgang Koeppen ein berüchtigtes N-Wort Erwähnung findet. Und besorgte Hochschullehrer berichten, an Universitäten fänden Auffassungen jenseits des Mainstreams immer weniger Aufmerksamkeit und werde infolge von Diversitätsstandards das Leistungsprinzip infrage gestellt.

Zu viel Korrektheit?

Bestimmen wirklich die Regeln der politischen Korrektheit zunehmend den öffentlichen Diskurs? Und erleben wir ein Übermaß an Moral? Was zu sagen erlaubt ist, regelt hierzulande und in anderen Teilen der freien Welt immer noch die freiheitliche Grundordnung mit ihren Verfassungssätzen. Beleidigung ist ein Straftatbestand, sich irgendwie beleidigt zu fühlen, kann lediglich ein subjektiver Eindruck sein; und stellvertretend für andere zu sagen, dass diese sich beleidigt oder anderswie benachteiligt fühlen könnten, ist argumentativ zu schwach, um daraus Handlungsmaximen und strikte Vorgaben abzuleiten.

Einen Denkanstoß kann ein entsprechender Hinweis aber trotzdem geben. Man mag den neuen Moralkodex, der vom Bemühen zeugt, Vielfalt zu fördern und rassistische Muster zu entlarven, für übertrieben halten, seinen Grundimpuls aber dennoch würdigen. Dass die Verantwortlichen der Buga besser gleich ein sachliches Gespräch mit der Tanzgruppe geführt hätten, bleibt dennoch richtig. Und es sollte nicht jeder und jede, die etwas anders sieht als eine bestimmte Interessengruppe, die geballte Macht sozialer Medien zu spüren bekommen. Dasselbe gilt umgekehrt für jene, die gemäß neuerer Sprach- und Denkkonventionen argumentieren.

Moral ist gut und notwendig. Doch ein Übermaß davon kann eine erhebliche Einschränkung bedeuten. Nicht umsonst haben sogenannte Moralapostel einen schlechten Ruf. Aber immer nur unbegrenzter Meinungsfreiheit das Wort zu reden, egal wie unreflektiert die Inhalte sind, ist gleichfalls recht dürftig. Auch hier ist alles eine Frage des Maßes. Die Partei anderer, schwächerer Menschen zu vertreten, ist eine gute Sache. Es bleibt aber etwa auch zu fragen, ob die Fürsprache im konkreten Fall nötig und angemessen ist. Vor allem sollte man sich hüten, ins Fahrwasser politischer Polarisierung zu geraten. Denn nicht zuletzt rechtsgerichtete Meinungsmacher wittern vielerorts eine restriktive linke Identitätspolitik, und eher linksgerichtete Autoren warnen oft davor, dass rechte Populisten den Freiheitsdiskurs unterwanderten.

Gut beraten ist, wer sich um eine gelassene Perspektive bemüht. Der Blick fürs große Ganze darf im Kleinklein der Meinungen nicht verlorengehen. Fürsprecher der Vielfalt lassen an ihrer Diskussionsbereitschaft zweifeln, wenn sie auf Aktivismus setzen. Und insgesamt sollte bewusst bleiben, was uns mit dem Rest der Welt verbinden kann, nämlich universalistische Werte. Die Echokammern der sozialen Medien tendieren dagegen ebenso zum Partikularismus wie die Parteinahme für immer noch mehr Gruppen, die auf Emanzipations- und Teilnahmemöglichkeiten pochen. Die unselige Tendenz zur Vereinzelung wird auch durch solcherlei fortgeschrieben.

Wesentlich vorteilhafter fürs Ganze wirkt ein weiter, unvoreingenommener Horizont. Um diesen zu bewahren, ist es nicht nur nötig, gut informiert zu bleiben, sondern auch mal gegen das Gewohnte anzudenken. Es ist möglich, das zu tun, ohne anderen gleich auf die Füße zu treten. Bedachtsamkeit ist dazu ein wichtiges Mittel.

Interessante Perspektiven

Nur eine wohlfeile Wendung ins Allgemeine? Es lässt sich erden durch Medienerfahrung: Im „Polizeiruf 110“ der ARD ermittelt Schauspieler André Kaczmarczyk als queerer Kommissar Vincent Ross im brandenburgischen Grenzgebiet, wo er interessante Perspektiven ins Spiel bringt. Zuletzt hat der Ermittelnde, um ein Handlungsprinzip zu begründen, programmatisch nur gesagt: „Weil sich alles ändern muss.“ Ändern sollte sich in der Tat noch einiges. Aber verbindenden Grundsätzen gilt es die Treue zu halten.

In einer freien Welt bleibt der Universalismus ein Leitbild. Es gibt eine Allgemeinheit, der alle zugehören. Partikulares hat darin seinen Ort, es kann aber nicht an die Stelle des großen Ganzen treten.

Redaktion Kulturredakteur, zuständig für Literatur, Kunst und Film.

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