Als Bahnfahrer bin ich geneigt, immer freitags böse über die Bahn herzuziehen, über die miserable Infrastruktur mit all den kaputten Gleisen, Weichen, Lokomotiven, Signalen, Türen und Typen, die nette, aber inkompetente Mitarbeiter und -innen sind. Über das Ärgernis, dass Bahnfahrten stets zum Heldenepos über einen tollkühnen Abenteurer namens Ich werden, der am Ende garantiert eine kaum zu glaubende Irrfahrt erlebt haben wird. Die Bahn könnte ihre Preise weiter hochsetzen, wenn sie den Adventure-Aspekt betonen würde. Slogans wie „Brechen Sie aus dem Alltag aus: Fahren Sie mit der Bahncard 55 Odyssee +“, könnten Marketingstrategen längst entdeckt haben. Im Ernst: Ich fühle mich im Zug manchmal wie in einem Escape-Room. Ohne Escape.
Heute geht es mir aber um etwas Anderes. Ein Big-Brother-Is-Watching-You-Thema. Alyas Freund hat nämlich etwas erzählt, was selbst die technikaffine Alya „krass“ findet. Einen Maracuja-Pfirsich-Karotten-Smoothie schlürfend erzählt sie, wie er neulich mit ihr telefoniert und sie gefragt habe, wie er nur seine bald sterbende Aphrodite beerdigen solle. Alya hatte keine Ahnung. Mit Katzenbestattungen kennt sie sich nicht aus. Die Geschichte könnte hier enden. Aber jetzt, so Alya, komme es: Nur einen Tag später sei ihr Freund, dessen Namen ich seiner Komplexität wegen vergessen habe, auf sozialen Medien bombardiert worden von Leuten, die zu wissen glaubten, wie eine Katze bestattet werden könne. Alya: „Woher wissen die das, habe ich mich gefragt. Ich sag’s euch: Wir werden längst 24/7 abgehört!“
Mich wundert nichts. Die Idee einer Totalkontrolle der Menschen ist ein alter Traum von Diktatoren. Kaiser Augustus hatte Spione, Hitler die Gestapo, Honecker die Stasi, Mister Capitalism die kalifornischen CO2-Schleudern, Serverfarmen genannt, auf denen alles irgendwann irgendwie irgendwo so gespeichert wird, dass man längst Doubles von uns anfertigen könnte. Dass wir, wie in Ridley Scotts „Blade Runner“, persönlich von Werbeplakaten angesprochen werden, erleben wir im Internet seit langem.
„Und du wunderst dich darüber?“, frage ich Alya sachte. „Ja“, sagt sie. Eigentlich hat sie recht. Denn auch wenn in den Datenschutzbestimmungen kleingedruckt so manches steht, was vielleicht nur gelangweilte Juristen und -innen lesen und verstehen, gibt es ja immer noch Menschenrechte und das Fernmeldegeheimnis. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte sieht Telefongespräche immer noch als Privatsache und Korrespondenz als geschützt an. Ein Eingriff verstößt gegen Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention, es sei denn, der Eingriff ist „gesetzlich vorgesehen“. „Man könnte oder muss“, sage ich deshalb zu Alya, „daraus folgern, dass dein Freund, wie hieß er doch gleich, vom Staat beobachtet wird.“ Alya wird bleich. Ihre Mimik sagt: Das erklärt einiges.
Ich bin übrigens sicher, dass Katzen, die Aphrodite heißen, ein Psychoproblem bekommen. Der Schönheitsdruck ist ein Erreger, der offenbar vom Menschen auf das Tier übertragen werden kann.
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