Interview

Ingrid Noll: „Wir haben alle unsere Drecksecken in der Seele“

Von 
Stefan M. Dettlinger
Lesedauer: 
Schreibt über und besitzt auch manchen Engel: Ingrid Noll, die auch die Geschichte auf Seite 1 geschrieben hat. © Manfred Rinderspacher

Mannheim. E-Mails unterzeichnet Ingrid Noll ganz gern mit „Lady of Crimeheim“, womit sie den Ort meint, in dem sie lebt: Weinheim. Dort ist die Redaktion anlässlich ihrer Geschichte „Engelbert“ zu Gast, die heute auf Seite 1 und online zu lesen ist. Themen gibt es im Interview aber viele - Gott, die Welt.

Liebe Frau Noll, haben Sie heute schon Engel gesehen? Oder Gartenzwerge und Buddhas?

Ingrid Noll: Buddhas und Gartenzwerge nicht, obwohl in meinem Garten einer herumliegt. Vom Südwestfunk geschenkt und mit einem Messer im Rücken. Das war ein gefundenes Fressen für die Fotografen. Aber Engel trifft man vor Weihnachten natürlich überall. Dort drüben steht zum Beispiel eine Spieluhr für meine Enkelkinder. Die Engel drehen sich mit ihren Musikinstrumenten im Kreis herum.

Als ich Sie vor Monaten kontaktiert habe, um Sie für eine Geschichte über Engel zu gewinnen, waren Sie sehr aufgeschlossen. Sie hatten gerade Ihren Mann verloren und sprachen von kitschigen Engeln auf Ihren Friedhofgängen. Wie viel Ingrid steckt nun in „Engelbert“?

Noll: Eigentlich keine. Aber bei den Engeln auf dem Friedhof kam mir das Wort Kitsch in den Sinn. Und dann war ich entsetzt über mich selbst, denn das Wort ist fast schon eine Gemeinheit. Jeder glaubt, der eigene Geschmack sei der beste, und alle anderen hätten einen weniger guten. Das ist überheblich und in jungen Jahren sehr verbreitet. Doch wenn ein Kind etwas gebastelt hat - etwa zum Muttertag - dann ist man hingerissen und hebt das gemalte Herz ein Leben lang auf. Man würde dabei nie an Kitsch denken.

Stimmt, bei Erwachsenen würde man’s nicht aufheben.

Noll: Auch bei Erwachsenen steckt immer viel Gefühl drin - und jeder hat eine heimliche Kitschecke. An Weihnachten sowieso; Kitsch hat ja oft etwas mit Massenproduktion zu tun. Auch das klingt nicht nett, man sollte sich nicht darüber lustig machen. In meiner Geschichte geht es um einen alten Mann, der voller Wut ist. Er ist einsam, verlassen und ärgert sich über fast alles.

Wo ist Ihre Kitschecke? Da, wo der Gartenzwerg mit dem Messer im Rücken steht?

Noll: Nein, der ist ja schon wieder verfremdet. Ich habe sicher 1000 Kitschecken. Mit Geschmack ist das so eine Sache, man sollte tolerant sein. Schon die Römer sagten, über Geschmack lasse sich nicht streiten. Aber das klappt nur beim Essen, da toleriert man, wenn dem anderen keine Austern schmecken. Oder bei Farben. Aber wenn es um Dekoration geht …

… oder um Mode …

Noll: … ja, oder Einrichtung und was weiß ich - dann wird man sehr schnell überheblich.

Es geht in der Geschichte ja nicht nur um Engel, sondern auch um Gehorsam. Wie schon in Ihren Romanen, hat Ihre Figur eine gewisse kriminelle Energie, indem sie beginnt, anderen Trauernden auf die Nerven gehen und Verbotenes tun zu wollen. Dieses Ausbrechen aus dem Normalen - ist das am Ende die Antriebsfeder Ihres Schaffens und auch eine Art Sehnsuchtsort für Sie?

Noll: Mich hat immer interessiert, wenn negative Gefühle allzu lange unter den Teppich gekehrt werden und dann eine Explosion erfolgt. In meinen Kriminalromanen ist es oft so, dass die Titelheldinnen eine ganze Menge haben schlucken müssen oder Traumata aus der Kindheit nicht verarbeitet haben - und irgendwann kracht es. Und bei diesem alten Herrn, der vielleicht schon eine Spur dement ist, schwelen Neid und unterdrückte Wut. Die anderen haben noch Familie und Enkelkinder, die zu Besuch kommen. Aber er ist einsam und es bleibt ihm eigentlich nur noch ein Grab.

In den Ensembles aus Horror, die Sie Engelbert aus Engeln und Zwergen gestalten lassen, lässt sich mitunter fast eine Kunstkonzeption lesen. Das erinnert mich - sehr entfernt natürlich - an Michel Houellebecqs „Karte und Gebiet“. Machen Sie eigentlich neben der Literatur noch andere Kunst, bildende gar?

Noll: Leider kann ich es nicht gut genug. Aber ich habe immer gern gezeichnet. Ich habe auch mal etwas Kunstgeschichte studiert, ich bin eine Museums- und Ausstellungsbesucherin von Jugend an. Musik liebe ich auch sehr. Aber ich bin auf diesen Gebieten ein Laie, eine Laiin. Gibt es das Wort?

An dieser Stelle können Sie sich die Weihnachtsgeschichte von Ingrid Noll anhören, indem Sie auf den Play-Button klicken:

Illustration des Künstlers Mehrdad Zaeri für die Weihnachtsgeschichte "Engelbert" von Ingrid Noll. © Mehrdad Zaeri

Ich denke schon, aussprechen müsste man es dann Lai*in mit einem Glottisschlag.

Noll: Ja, gut.

Sie bedienen sich also der Gendersprache?

Noll: Nun ja, in Romanen eigentlich weniger, weil ich meine Heldinnen sprechen lasse. Es klänge wohl sehr künstlich, wenn dauernd gegendert würde.

Das wird aber mittlerweile gemacht.

Noll: Mir kommt es zu künstlich vor. Vielleicht werde ich es versuchen, wenn es zur Erzählerin passt.

Sie sind in China aufgewachsen. Haben Sie eine Beziehung zum Buddhismus? Die modische Hochphase, von der Sie in „Engelbert“ berichten, wo sich jeder so ein Ding ins Zimmer gestellt hat, ist ja längst vorbei …

Noll: … doch, ich sehe oft Buddhas in Deko-Läden und auch in Gärten. Aber zum Buddhismus habe ich keinen speziellen Bezug.

Sie sind nicht damit in Berührung gekommen in der Zeit zwischen 1935 und 1949?

Noll: Sicher mehr, als wenn ich in Deutschland aufgewachsen wäre. Ich habe manchmal Beerdigungen gesehen, die ganz anders als hierzulande waren. Da ging es aber eher um Tradition als um Religion. Auch bei uns feiern Türken und Muslime oft Weihnachten, weil sie sich sagen: Unsere Kinder sollen auch etwas geschenkt bekommen, und wenn sie den Weihnachtsbaum so toll finden, warum sollte man nicht auch einen besorgen!

Wie stehen Sie zu überhaupt zu Religion und Gott?

Noll: Ich bin nicht gläubig. Meine Eltern waren Christen, ich wurde getauft, bin aber seit vielen Jahren aus der Kirche ausgetreten. Ich teile zwar die christliche Ethik, aber ich glaube nicht an einen gütigen Gott.

Sie sind nicht wenigstens ein bisschen spirituell?

Noll: Ich sehe die Dinge eher aus der naturwissenschaftlichen Perspektive.

Okay, das erklärt ja vielleicht auch Ihren Umgang mit Weihnachten in Ihrer Weihnachtsgeschichte. Es spielt in „Engelbert“ nur kurz eine Rolle, als Engelberts Eltern in Humperdincks „Hänsel und Gretel“ gehen. Sie haben die ganze Engelschar absichtlich außen vor gelassen…

Noll: … ja, das war Absicht. Ich wollte mich nicht mit himmlischen Federn schmücken. Doch das Ende meiner Geschichte spielt durchaus an Weihnachten und nimmt eine versöhnliche Wendung.

Sie sagten ja eingangs, dass Sie nicht so viel mit Engelbert zu tun haben. Aber die Geschichte ist Ihnen schon aus der Autobiografie gekommen, oder?

Noll: Also das ist mir zu privat. Ich war oft auf dem Friedhof.

Dann kehren wir dem Sehnsuchtsort Friedhof den Rücken. Ist die Literatur Ihr Sehnsuchtsort schon seit der Kindheit?

Noll: Ja, ich habe die Schrift als Magie empfunden: Zeichen auf ein Papier zu bringen, und ein anderer kann diese Worte deuten. Das ist Zauberei, Hexerei, einfach wunderbar! Ich habe in China vieles nicht gelernt, aber Lesen und Schreiben durchaus. Das war später meine Rettung in Deutschland, wo ich im Gymnasium zuerst grottenschlecht war. Doch mit der Eins in Deutsch konnte ich die Fünf in Mathe ausgleichen. Und wenn ich nicht gute Aufsätze geschrieben hätte, hätte man mich sicher für blöd gehalten.

Und wann haben Sie so richtig angefangen?

Noll: Als die Kinder klein waren, habe ich Kindergeschichten geschrieben, als sie dann aus dem Haus waren, habe ich mir gesagt: So, jetzt mache ich mal was anderes. Für Erwachsene. Und nicht so freundlich und nett.

Und das Nicht-so-Freundliche musste auch aus Ihnen raus?

Noll: Ja. Außerdem bildete ich mir ein, es sei leichter einen Krimi zu schreiben. Last not least würde Reich-Ranicki ein solches Produkt auch nicht mit der Feuerzange anfassen. Und abgesehen davon habe ich nie ernsthaft geglaubt, dass mein Manuskript überhaupt gedruckt würde. Es war ein reines Experiment.

Autorin Ingrid Noll

  • Die Autorin: Ingrid Noll, 1935 in Shanghai geboren, studierte in Bonn Kunstgeschichte und Germanistik, brach das Studium aber ab, als ihr Vater starb. Ernsthaft zu schreiben begann die in Weinheim lebende Autorin, als ihre drei Kinder aus dem Haus waren.
  • Das Werk: Mit ironischen Noten versehene, eigenwillige Kriminalromane wurden zu ihrem Markenzeichen. Mit Titeln wie „Der Hahn ist tot“ oder „Die Apothekerin“ erzielte sie hohe Auflagen. Ihre Bücher wurden in 27 Sprachen übersetzt und teilweise verfilmt. Anfang des Jahres erschien ihr jüngstes und mittlerweile 20. Buch mit dem Romantitel „Kein Feuer kann brennen so heiß“ (Diogenes Verlag, Zürich. 293 Seiten, 24 Euro).
  • Die exklusive Geschichte: Hören Sie Ingrid Nolls Kurzgeschichte „Engelbert“ von Ingrid Noll gelesen als Podcast auf: mannheimer-morgen.de/leben

Leiden Sie als Krimiautorin eigentlich darunter, dass man in der Literaturwelt nicht so ganz ernst genommen wird?

Noll: Das Gefühl hatte ich nie.

Aber wie Sie schon sagen: Marcel Reich-Ranicki hätte das nie angefasst, und dem Erfolg steht nicht die Anerkennung gegenüber, die jemand kriegt wie Martin Walser, der vielleicht weniger Bücher verkauft als Sie …

Noll: … das glaube ich nicht. Aber: Ich will ja nicht elitär sein, das ist nie mein Anspruch gewesen. Ich kenne viele Menschen, die nie ein Buch lesen und absolut in Ordnung sind. Und zu meinen Lesungen kommen sehr unterschiedliche Zuhörerinnen: die Chefärztin, die Altenpflegerin, die Schuldirektorin oder die Schuhverkäuferin. Das mag ich gern. Ich will unterhalten und keinen Universitätskurs veranstalten.

Denken Sie beim Schreiben an die Leserinnen und Leser?

Noll: Am wichtigsten ist, dass ich erst mal selbst zufrieden bin. Ich weiß genau, dass ich nicht zu den Edelfedern gehöre. Auch von meiner Bildung her nicht. Das wäre Hybris.

Aber verfolgen Sie ein inhaltliches Ziel, eine Botschaft über die Unterhaltung hinaus?

Noll: Doch, ich versuche Psychogramme zu schreiben. Es geht mir schließlich um Menschen. Warum ticken die so? Manchmal bin ich sogar ein bisschen moralisch, weil ich finde, man dürfe nicht allzu schnell verurteilen. Ich will, dass die Leser zugeben: Vielleicht hätte ich in diesem Fall so ähnlich gehandelt. Ich will Empathie wecken.

Also Empathie wecken auch für Leute, die sich moralisch nicht einwandfrei verhalten?

Noll: Ja, denn wir haben ja alle nicht nur Kitsch-, sondern auch Drecksecken in der Seele. Jeder hat schon mal gesagt: Den könnte ich glatt umbringen. Wir tun das vielleicht nicht …

… wer weiß …

Noll: (lacht) … viel zu feige. Also wenn ich etwas nicht mag, dann ist es dieser ganz hohe moralische Anspruch, oder dass man auf Leute herabsieht, die vielleicht weniger gebildet sind und weniger Chancen hatten.

Dann handelt es sich auch um Sozialliteratur?

Noll: Das wäre mir recht. Und wo wir schon über Kitsch gesprochen haben. Ein anderes Unwort ist Spießer. Dieses Urteil ist schnell gefällt. Ich war schon bei Leuten zu Besuch, wo man denken könnte: O Gott, wie sind die angezogen und eingerichtet! Sie haben aber ein Kind adoptiert, das aus prekären Verhältnissen kommt und außerdem behindert ist. Aus purer christlicher Nächstenliebe war es nicht, sondern aus Menschlichkeit. Da können manche Schicken und Reichen nicht mithalten. Vielleicht.

Aber man braucht ja trotzdem eine moralische Demarkationslinie.

Noll: Ja, sicher, aber manches könnte ich auch bei einem Verbrecher verstehen. Wenn ich höre, wie er aufgewachsen ist, was er alles erlebt hat, was man ihm angetan hat. Man ist bei der Geburt ja weder gut noch böse. Ein kleines Kind haut einem anderen schon mal die Schaufel auf den Kopf und muss anständiges Benehmen erst noch lernen.

Bestsellerautorin aus Weinheim

Zu Besuch bei Ingrid Noll

Veröffentlicht
Bilder in Galerie
6
Mehr erfahren

Es gibt sicherlich auch begünstigende genetische Veranlagungen.

Noll: Doch man kann auch sie in verschiedene Richtungen lenken.

Aber ich kann natürlich auch den Neo-Nazi herleiten aus seiner Geschichte und seinem Leben und am Ende sagen: Okay, ich verstehe, dass er ist, was er ist.

Noll: Das stimmt leider. Trotzdem hört es bei mir irgendwo auf, denn es gibt Grenzen der Empathie. Ich kann vielleicht noch den Aufbrausenden verstehen, der provoziert wurde und jemandem eins über die Rübe gibt, aber wenn einer den Hitlergruß zeigt und behauptet, es hätte keine KZs gegeben - dann ist Schluss.

Das eine ist Affekt, das andere hat System, aber kommen wir noch zu einem Schluss und zu Weihnachten: Sie haben ja auch schon viel erlebt und alles bekommen. Haben Sie dennoch Wünsche?

Noll: Materielle Wünsche habe ich kaum. Aber ich würde gern wieder reisen können, ich war immer wahnsinnig gern unterwegs. Wahrscheinlich habe ich noch ein bisschen Abenteuerblut in mir. Leider bin ich körperlich nicht mehr in der Lage, ganz wilde Reisen zu machen, wo man vielleicht rennen muss.

Wohin?

Noll: Ich würde gern nach Südamerika reisen, ich habe früher sogar extra Spanisch dafür gelernt. Im Traum trug ein freundliches Lama mich und mein Gepäck hinauf bis zur Sonnenpyramide. Dort blühte der allerschönste Weihnachtsstern.

Sie wollen mehr von Ingrid Noll hören? Unsere Partnerzeitung, die Schwetzinger Zeitung, hat sie im Podcast "Leben. Lieben. Lachen." interviewt:

Ressortleitung Stefan M. Dettlinger leitet das Kulturressort des „MM“ seit 2006.

Copyright © 2025 Mannheimer Morgen