Schwetzingen. Ganz neu ist die Nachricht nicht. In weiten Teilen der Welt, so eine Studie des Mannheimer Ökonomen Wladislaw Mill und seines Kollegen Benjamin Kohler von der ETH Zürich, werde Schönheit eher mit Positivem als mit Negativem assoziiert. Sie wird mit Intelligenz, Kompetenz, Leistungsfähigkeit und Vertrauenswürdigkeit gekoppelt. Attraktive Menschen, so steht es in der Studie, bekämen eine Art Schönheitsprämie und genössen damit Vorteile im sozialen Umfeld, zum Beispiel bei der Berufs- und der Partnerwahl. Aber auch in den wenigen Ländern wie Rumänien oder einigen asiatischen Staaten, wo Schönheit laut der Mannheimer Studie interessanterweise eher mit Negativem wie Inkompetenz und Misstrauen verknüpft wird, steht außer Frage, dass Aussehen Lebenschancen beeinflusst. Eine Beeinflussung, die einer anständigen Gesellschaft nicht per se gut zu Gesicht steht.
Wir halten schöne Menschen für bessere Menschen.
Die Entdeckung dieser Schönheitsprämie ist allerdings schon älter. Bereits 1969 stieß Ellen Berscheid an der Universität Minnesota gemeinsam mit ihrer Doktorandin Karen Dion, die sich gerade mit der Frage beschäftigte, warum manche Kinder in Kitas beliebter sind als andere, auf den, heute würde man sagen, Schönheits-Gap. Je hübscher ein Kind, desto beliebter, so der Befund. Nicht Charakter und Verhalten bedingen Sympathie oder Antipathie, sondern das Aussehen. Für Berscheid war das ein eher frustrierendes Ergebnis: „Wir halten schöne Menschen für bessere Menschen.“
Attraktivität wirkt wie eine soziale Währung und beeinflusst Lebenschancen
Ein Satz, der nicht stimmt. So klar es diese Zuschreibungen aufgrund von Schönheit gibt, so klar ist auch, dass diese Zuschreibungen nicht zutreffen. Ein schöner Mensch ist nicht moralischer oder kompetenter als ein vermeintlich weniger attraktiver Mensch. Es gibt da keinen Zusammenhang. Dass dieser trotzdem, mehr als einem halben Jahrhundert nach seiner Entdeckung, immer noch wirkmächtig ist, steht ziemlich massiv im Widerspruch zum gesellschaftlichen Bemühen, Vorurteile zurückzudrängen. Rund um Hautfarbe oder Geschlecht wurde in einigen Teilen der Welt durchaus einiges erreicht − nicht so bei der Schönheit, was ein paar Zahlen überdeutlich machen.
Im vergangenen Jahr stieg der Einzelhandelsumsatz für Kosmetik- und Körperpflegeartikellaut Industrieverband Körperpflege- und Waschmittel e. V. (IKW) um 3,6 Prozent auf einen Rekordwert von 34,6 Milliarden Euro. 2010 lag das Marktvolumen in diesem Segment noch bei knapp 13 Milliarden Euro. Und auch bei den Schönheitsoperationen ging die Entwicklung steil nach oben. Im Zeitraum von 2010 bis 2023 verdoppelte sich die Zahl der ästhetischen Eingriffe in Deutschland. Vor 15 Jahren verzeichnete das Statistische Bundesamt 229.000 Schönheitsoperationen. Vorletztes Jahr waren es 463.000.
Es wird scheinbar zunehmend schwieriger, das Unperfekte zu akzeptieren. Und das ist in dieser Qualität neu. Zwar war Schönheit schon immer ein gesellschaftlicher Wert und damit auch ein Ziel. Kleopatra badete in Milch und Honig, Aristoteles sah in ihr die Ordnung der Mathematik und in annähernd allen Märchen weltweit steht Anmut für das Edle und Gute. Die junge und kraftvoll wirkende Schönheit war schon immer eine Art zivilisatorischer Kompass.
Medien und Medizin verstärken den Druck auf ein globalisiertes Schönheitsideal
Doch in der globalisierten Mediengesellschaft, vereint mit dem medizinischen Fortschritt, scheint hier etwas auf die schiefe Ebene geraten zu sein. Der Kompass zeigt nur noch in eine Richtung, sodass das Aussehen in vielen Teilen der Welt mittlerweile den Platz eines goldenen Kalbes eingenommen zu haben scheint. Alle huldigen diesem Kalb und immer mehr verzweifeln an ihm. Denn das Problem der schiefen Ebene ist, dass es kein Halten gibt. Angesichts der Bilderflut in der digitalen Welt sowie dem Tsunami an Produkten und Angeboten rund um die Schönheit vermögen einzelne Menschen oder Gruppen den Kräften auf dieser schiefen Ebene kaum noch zu widerstehen. Die Hoffnung Berscheids, dass sich die Menschen von der Macht der Schönheit und ihrer vorurteilschaffenden Kraft in Teilen befreien, scheint sich nicht erfüllt zu haben.
Im Gegenteil. Und das hat laut dem Neurologen an der Universität Pennsylvania, Anjan Chatterjee, Gründe im Gehirn, wie neurologische Untersuchungen zeigen. Beim Anblick von schönen Personen sprangen im Gehirn von Testpersonen zwei Areale an. Zum einen der Teil, der für das Erkennen von Gesichtern verantwortlich ist, und zum anderen jener, der das Belohnungssystem steuert. Wenn den Probanden dagegen Gesichter von nicht so attraktiven Menschen gezeigt wurden, blieben Areale, die die Empathie steuern, still. Die positiven Empfindungen gegenüber Schönheit sind allem Anschein nach evolutionär tief verwurzelt.
Eine Theorie dazu, die sich auch in der Mannheimer Studie findet, geht davon aus, dass Schönheit als Zeichen der Gesundheit gilt und dass das unmittelbare Reagieren darauf evolutionär gesehen von Vorteil ist. Ein Gedanke, an dem in der Frühzeit der Menschheit etwas dran gewesen sein könnte. Ein asymmetrisches Gesicht, so Chatterjee, sei früher ein Hinweis auf eine parasitäre Erkrankung gewesen. Heute jedoch dürfe dies getrost beiseite gelegt werden. Ja, heute seien einige Schönheitsideale sogar gesundheitsgefährdend. Um nur ein Beispiel zu nennen, nicht zu dünn sein, ist gesund. Oder anders formuliert, Fettpolster steigern die Lebenserwartung. Heißt, jedes Gramm Fett wegzutrainieren, ist der Lebenserwartung nicht förderlich, so eine Untersuchung, die im „JAMA“ (The Journal of the American Medical Association), der am weitesten verbreiteten und renommiertesten Fachzeitschrift für Medizin, veröffentlicht wurde.
Es ist ein Wissen, dass in den Hirnen der Menschen noch nicht angekommen zu sein scheint. Für viele Menschen ist Schönheit und vermeintliche Gesundheit ein Ziel, für das gearbeitet werden muss. Genau wie Heidi Klum in „Germany’s Next Topmodel“ immer wieder betont. Schönheit und vermeintlicher Perfektion ist nicht länger Schicksal, sondern Ergebnis harter Arbeit und medizinischer Intervention, der sich immer mehr Menschen widmen.
Viele Ärzte stellen sich gegen den Vorwurf, Teil dieser sich immer schneller drehenden Spirale rund um die Herstellung von Schönheit zu sein. Man denke nur an die Wiederherstellungsleistung nach schweren Unfällen. Ganz grundsätzlich, so das Narrativ, sei die medizinische Chirurgie ein äußerst wertvolles Instrument, um bei psychologischen Problemen mit dem eigenen Körper Hilfestellung zu leisten. Richtig, aber zugleich eben auch riskant. Die Definition von psychologischen Problemen ist gesellschaftlich sozialisiert. Das heißt, was heute rund um den Körper als normal und akzeptiert gilt, kann schon morgen als untragbare Last empfunden werden. Gerade die Photoshop-idealisierte Bilderwelt führt dazu, dass der eigene Körper immer häufiger als falsch wahrgenommen wird. So wird das, was nicht gefällt, als krank etikettiert.
Es ist eine Ironie, ausgerechnet im Zeitalter der Individualisierung arbeiten immer mehr Menschen an nur noch einem Ziel − dem Erreichen eines singulären Schönheitsideals.
Es gab und wird wahrscheinlich immer eine Lücke zwischen gefühltem und realem Körper geben. Aber derzeit scheint die Lücke größer und schmerzhafter zu werden, sodass es mehr Anstrengungen bedarf, zu einem Gleichgewicht zu kommen. Dabei ist kaum etwas so fremd gesteuert wie dieses empfundene Gleichgewicht. Im 17. Jahrhundert, zur Zeit des deutsch-niederländischen Malers Peter Paul Rubens (1577–1640) galt für Frauen ein heute unvorstellbares Schönheitsideal. Sie mussten dick sein − Bodymaß-Index 30 und darüber. Im 21. Jahrhundert finden wir uns auf der anderen Seite dieses, von der Versicherungsbranche entwickelten Index. Ungesund scheint beides zu sein. Doch die medial verstärkte Wahrnehmung wird diesem Wissen kaum eine Chance lassen. Der Trend schlank bis dünn, ohne Falten, Flecken oder Unebenheiten ist ungebrochen.
Menschen sollten ihre automatischen Zuschreibungen hinterfragen
Es ist eine Ironie, ausgerechnet im Zeitalter der Individualisierung arbeiten immer mehr Menschen an nur noch einem Ziel − dem Erreichen eines singulären Schönheitsideals. In den Augen der englischen Psychoanalytikerin Susi Orbach sind wir auf einem fatalen Weg. „Wir erschaffen Körper ohne Geschichte, die dafür aber den Erwartungen anderer entsprechen sollen.“ Wobei diese anderen wir alle sind. Umberto Eco schrieb in seinem Buch „Geschichte der Schönheit“, dass Schönheit nie etwas Absolutes und Unveränderliches sei, sondern je nach Zeit und Kultur unterschiedliche Prägung erfuhr. Es könnte sein, dass diese These im 21. Jahrhundert im Äther der globalisierten Mediengesellschaft zumindest in Teilen widerlegt wird: Wenn fast alle irgendwann gleich schön aussehen wollen.
Es sei denn, Chatterjee hat recht. In gewisser Weise könne man das evolutionäre Begehren von Schönheit mit unserer Sucht nach Zucker vergleichen. Die Lust auf Zucker stamme aus einer Zeit, in der dieser Stoff rar war und das Streben danach einen evolutionären Vorteil bot. Heute, in Zeiten des Überflusses und der Gesundheitsrisiken durch Zucker, hätten viele Menschen gelernt, ihren Impuls nach Süßem zu mäßigen. Warum soll uns das, so fragt der Neurologe, nicht auch mit unseren Auffassungen zu Schönheit gelingen. Die Reaktion auf Schönheit im Gehirn sei real, aber es müsse ja nicht die letzte Entscheidung sein. Das Gehirn habe ausreichend Kapazitäten, um zu erkennen, dass die Zuschreibungen zu Schönheit rund um Intelligenz, Kompetenz und Gesundheit − oder eben das Gegenteil − falsch seien.
Eine Implikation für die Wirtschaft, zu erkennen, so Mill und Kohler, dass die evolutionär und kulturell geprägte Schönheitsnorm ein unterschätzter Faktor in gesellschaftlichen Machtstrukturen ist. Wenn, wie sie sagen, „Attraktivität in verschiedenen Kulturen mit unterschiedlichen sozialen Signalen verbunden ist, hat das direkte Auswirkungen auf gesellschaftliche Chancenverteilungen“. Das unvermittelte Wirken von Schönheitsidealen auf die Gesellschaft, so könnte man folgern, macht unsere Welt ungerechter und verführt die Menschen zu schlechteren Entscheidungen. Aber dagegen kann man, wie gegen viele andere urteilsschwächende und ungerechtigkeitsschaffende Vorurteile, angehen. Das Gehirn hat dafür ausreichend Kapazitäten.
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