Das Porträt

Schicksale in der Corona-Pandemie: Wie aus einer Opernsängerin eine Tramfahrerin wurde

Von 
Georg Rudiger
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Vor der Corona-Pandemie verdiente Dina König ihren Lebensunterhalt mit dem Singen. © G. Werner

Ihr Ton berührt, ihr schlackenloser Gesang trifft ins Herz. Im schwarzen Abendkleid steht Dina König in der voll besetzten Basler Predigerkirche. Ein Jahr zuvor hat die zierliche Altistin ihren Master of Arts in spezialisierter musikalischer Performance an der renommierten Schola Cantorum Basiliensis abgelegt. Ihren Lebensunterhalt verdient die Freelancerin mit Singen wie bei diesem Konzert mit dem Ensemble Musica Fiorita im Dezember 2018, das auf Youtube zu sehen ist. Die Karriere läuft gut. „Dina König besitzt eine außergewöhnliche Stimme mit einem ausgesprochen schönen und soliden Brustregister, kraftvoll und doch weich. Zudem ist sie ein großes Bühnentalent“, sagt ihr ehemaliger Basler Gesangslehrer Gerd Türk.

Zum Treffen am Morgen in einem kargen Warteraum am Aeschenplatz hat die Sängerin ihr Müsli mitgebracht. Über der hellblauen Bluse trägt König eine hochgeschlossene Weste. In den Gesprächspausen wirft sie einen Blick auf ihr Tablet, um nochmals die genauen Straßenbahnverbindungen zu checken. Sie muss aber nicht zu einer Probe. Dina König fährt die Tram! Um 9 Uhr beginnt ihre Mittelschicht auf der Linie 3 nach Saint Louis. Als Fremdkörper wirkt die 30-jährige in Kasachstan geborene Deutsche im Pausenraum der Basler Verkehrsbetriebe (BVB) in ihrer nüchternen Dienstkleidung nicht. Das liegt auch an ihrer lockeren, völlig unaffektierten Art. Sie mag ihre neuen Kollegen. Man sieht sich hier nicht als Konkurrenten.

Das Leben ist entspannter

2020 sollte eigentlich ihr bestes Jahr werden. Sie war für viele spannende Projekte engagiert. Dann folgten die Absagen durch die Corona-Pandemie. Von heute auf morgen hatte die über viele Jahre alleinerziehende Mutter eines inzwischen zehnjährigen Sohnes keine Einkünfte mehr. Sie wollte und musste etwas tun. Und wurde auf die Basler Verkehrsbetriebe aufmerksam. Ein sicherer Job, umweltfreundlich, nützlich, mit nur zwei Monaten Ausbildung und rund 5000 Schweizer Franken Einstiegsgehalt. Seit März 2021 arbeitet sie in Vollzeit in drei Schichten auf den neun verschiedenen Linien im 72,9 Kilometer langen Basler Straßenbahnnetz.

Olivier Picon (links) und Dina König vor ihrem neuen Arbeitsplatz. Ihre Entscheidung für die Tram ist eine endgültige. © Georg Rudiger

Genau wie ihr Lebensgefährte Olivier Picon. Der 37-jährige Hornist hat heute frei, kommt aber trotzdem im Dienstanzug zum Gespräch. Seit drei Jahren sind die beiden ein Paar. Auch sein Leben ist durch den neuen Beruf entspannter geworden. „Ein Konzert ist viel stressiger als eine Straßenbahnfahrt. Wir Musiker sind sehr belastbar und können schnell reagieren, wenn es sein muss. Diese grundsätzliche Fähigkeit hilft uns beiden als Tramfahrer enorm“, erklärt Picon. Die große Verantwortung belastet sie nicht. Man müsse sich nur an die Regeln halten. In der Musik dagegen sei häufig das Beste noch nicht ausreichend. „Man ist so gut wie sein letztes Konzert“, kommentiert Picon trocken.

Ein Blick zur Uhr, der Schichtwechsel rückt näher. Noch einmal schnell auf die Toilette, dann stehen wir auch schon an der Haltestelle und warten auf den 42,90 Meter langen Bombardier Flexity. Der Wagen hält, ein kurzes Gespräch mit dem aussteigenden Kollegen, dann setzt sie sich in die Fahrerkabine. Und fährt sanft an in Richtung Saint Louis. Den Kollegen in der entgegenkommenden Bahn grüßt sie freundlich. Und agiert im Führerstand so selbstverständlich und entspannt, als hätte sie nie etwas anderes getan. Nach dem Barfüßerplatz steigt es am Kohlenberg an zur Musikakademie Basel, ihrer früheren Ausbildungsstätte.

Erfolgsdruck gegen Sicherheit

Olivier Picon ist heute als Fahrgast mit dabei. Der Franzose gehört zu den besten Instrumentalisten auf dem schwierig zu spielenden Naturhorn und unterrichtete an der Hochschule der Künste Bern. Graziella Contratto, Leiterin des Fachbereichs Musik, schätzt seine außerordentliche Qualität und seine „warmherzige, empathische Art des Unterrichtens. Er verbindet auf allen Hornvariant-Instrumenten Kompetenzen, Leidenschaft und Musikalität.“ Rund 1000 Konzerte hat Picon in den 15 Jahren seiner Profilaufbahn gegeben. Er war so gut im Geschäft wie wenige seiner freien Kollegen und ist auch mal für ein einziges Konzert, in dem er zehn Minuten spielen musste, nach Japan geflogen worden. „Dafür habe ich mich richtig geschämt.“ Das ständige Gefordertsein mit Reisen, Konzerten, täglichem Üben, Organisation, Erfolgsdruck machte ihm auf Dauer zu schaffen. Nun hat er auf dem Höhepunkt seiner Karriere aufgehört und genießt die 25 Urlaubstage und die soziale Sicherheit im neuen Job.

Negative Erfahrungen hat Dina König als Tramfahrerin auch gemacht. „Ich weiß nicht, wie oft ich von Jugendlichen als Schlampe bezeichnet wurde. Aber das perlt an mir ab.“ Den Sexismus im Musikbetrieb empfand sie als belastender. Da wollte schon mal ein Dirigent ihren Lippenstift schmecken. Oder sie musste einen Vertrag unterschreiben, in dem sie zum Tragen von hohen Schuhen verpflichtet wurde. Der Applaus fehlt ihr gar nicht, nur das gemeinsame Musizieren.

Auf der Rückfahrt geht es wieder an der Musikakademie vorbei. Plötzlich wird Dina König aufgeregt und klingelt, weil sie eine frühere Kollegin entdeckt. Die befreundete Musikerin rollt eine Harfe über den Gehweg und steigt an der Haltestelle ein. Olivier Picon eilt nach hinten, um sie herzlich zu begrüßen. Die meisten Kollegen hätten nach zwei Jahren Pandemie Verständnis für ihren radikalen Schritt und bewunderten ihren Mut. Viele hoffen, dass sie wieder ins Musikleben zurückkehren. Aber für beide ist die Entscheidung für die Tram eine endgültige. „Wir sehen keine stabile Zukunft im Musikberuf – weder persönlich noch finanziell“, sagt Dina König. Frustriert wirkt sie dabei nicht. Am Aeschenplatz ist die Fahrt für uns beendet. Olivier Picon muss den Sohn von der Schule abholen – und seine Partnerin fährt die nächste Runde.

Freier Autor Georg Rudiger beobachtet von Freiburg aus das Musikleben im Südwesten, der Schweiz und auch mal in Südafrika. Meistens schreibt er über Klassik, gelegentlich aber auch über Jazz und Pop, wenn er nicht gerade am Cello sitzt.

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