Mannheim.
Herr Somuncu, die Humorsituation im Land ist äußerst angespannt, Sie selbst stehen immer wieder in der Kritik. Nun starten Sie am 26. März online ein neues Latenight-Format. Live und ungezügelt von einer Redaktion – ist das im aktuellen Klima eine gute Idee?
Serdar Somuncu: Ich hab vor mir keine Angst (lacht). Deswegen ist die Idee auch genau richtig und gut. Und den Zeitpunkt? Den suche ich mir ja nicht aus, der sucht sich mich aus. Aber wie Sie sagten: Es ist nicht leicht. Der Diskurs wird immer enger, wenn es überhaupt einen Diskurs gibt.
Was haben Sie denn bei Ihrer“ XStream Latenight“ konkret geplant?
Somuncu: Ich bin in einem Fernsehstudio, die Show wird live ins Internet gestreamt. Man kann interaktiv teilnehmen als Zuschauer, wird auch gehört und wahrgenommen. Ich kann also angesprochen werden. Trotzdem ist das Ganze eine Latenight Show, die aber nicht nach Standard abläuft. Es wird wilder und verrückter, weil wir das Medium Internet nutzen wollen. Wir wollen aber auch den Versuch wagen, dieses Genre Latenight, das ja derzeit brachliegt, noch einmal ins Leben zu bringen. Auf eine Art und Weise, wie man es eher aus Amerika kennt. Mit Ecken und Kanten, streitbar, nicht so kontrolliert wie das sonst im Fernsehen ist, sondern ruhig ein bisschen freier. Wir fangen jetzt erst einmal an mit vier Episoden, schauen, wie sich das durchsetzt, ob sich das rentiert. Weil ich das als Produzent auch finanzierbar machen muss. Wenn das klappt, gehen wir monatlich und dann auch wöchentlich an den Start.
Serdar Somuncu
- Kabarettist, Schauspieler, Autor und Regisseur Serdar Somuncu wurde am 3. Juni 1968 in Istanbul geboren. 1970 zogen seine Eltern als Gastarbeiter nach Deutschland.
- Von 1984 bis 1992 studierte er Musik, Schauspiel sowie Regie in Maastricht und Wuppertal.
- Am Theater ist er seit 1985 aktiv und sorgte zuletzt 2018 mit seiner Inszenierung von Taboris „Mein Kampf“ in Konstanz für Aufsehen.
- Den Grundstein seiner Kabarett-Karriere legte Somuncu 1996, als er eine Tournee mit über 1400 Auftritten startete, bei denen er aus Hitlers „Mein Kampf“ vorlas.
- Die Premiere der selbst produzierten Online-Show „XStream – Latenight“ läuft am Freitag, 26. März, 21 Uhr. Karten ab 14,90 Euro unter iss.show/xstream-latenight/
Auch mit Gästen und Musik? Ähnlich wie Howard Stern?
Somuncu: Ja, ähnlich wie das Format von Howard Stern. Der kam ja vom Fernsehen und ist sozusagen als Pirat ins Internet gegangen. Inzwischen ist das ja eine sehr erfolgreiche Show, die auch davon lebt, dass sie unabhängig ist. Er ist auch wie ich jemand, der sagt, was er denkt. Wir werden Gäste einladen. Unser erster Gast wird Friedrich Küppersbusch sein. Wir werden musikalische Gäste haben. Welche das sein werden, ist noch nicht ganz klar. Der große Vorteil ist, dass keine Redaktion und kein Sender dahinter steckt. Und ich erwartbare Shitstorms auch mit der nötigen Geduld aushalten kann (lacht).
Die werden kommen. Was platzt eher: Twitter oder Ihre Hutschnur?
Somuncu (lacht): Es ist im Moment unerträglich, ehrlich gesagt. Die Wellen schlagen so schnell hoch. Man weiß gar nicht mehr warum. Sportmoderator Jörg Dahlmann sagt „Das Land der Sushis“ – also ich bitte Sie: Wenn das Anlass ist für einen Skandal, dann möchte ich nicht wissen, was ich die letzten dreißig Jahre alles gesagt habe. Wir haben alle unsere Leichen im Keller. Wenn das der Maßstab ist? Das ist übertrieben.
Wenn Lisa Eckhart und Dieter Nuhr schon über Cancel Culture klagen, müssten Sie sich eigentlich längst in Luft aufgelöst haben . Merken Sie es an Buchungen oder sind Sie als Live-Act mit regelmäßig vollen großen Hallen zu erfolgreich, um totgetwittert zu werden?
Somuncu: Ich merke das nicht an den Buchungen. Aber ich habe natürlich im Umfeld dieses sogenannten Skandals um Lisa Eckhart einige Reaktionen mitbekommen. Die waren zum Teil absurd. Auch ich bin nicht frei von jeglichem Verdacht, denn es kann ja sein, dass man ohne es zu merken rassistische Bemerkungen macht. Aber wie da manches aus dem Kontext gerissen wird, damit Leute für sich in Anspruch nehmen können, sich als Meinungsführer eines bestimmten Themas aufzuspielen, ist durchschaubar und abstoßend. Zumal viele von denen selbst Dreck am Stecken haben. Und dann frage ich mich auch gleichzeitig, warum sich so viele Kollegen wegducken. Und auch, warum sich Sender sofort entschuldigen wie der WDR, wenn kein Anlass vorliegt - oder der Anlass weit vorher existiert hätte und die Entschuldigung viel zu spät kommt.
Aber Sie können oder wollen sich auch nicht zurückhalten. Kurz darauf feuerten Sie in einem Podcast mit Florian Schroeder eine volle Breitseite unter anderem mit frauenfeindlichen Klischees. Ein klassisches Somuncu-„Jetzt erst recht“?
Somuncu: Wer meine Arbeit kennt, weiß, dass das ein Stilmittel ist, das ich benutze. Es war so, dass wir über das Thema Cancel Culture gesprochen haben und ich Florian angekündigt habe, diese Aktion zu machen. Ich habe gesagt: „Ich mache gleich etwas, dafür werden wir viel Ärger kriegen, ich kündige das auch an, aber das wird keine Rolle spielen. Denn irgendjemand wird diesen Ausschnitt herausholen. Und dann wird dieser Ausschnitt zur Grundlage einer Diskussion werden, die uns den Job kostet.“ Fatalerweise ist genau das passiert (lacht).
Warum war Ihnen das so wichtig?
Somuncu: Ich habe da inzwischen eine andere Sichtweise drauf. Zum einen war es die richtige Idee am falschen Platz. Ein Podcast ist kein Theater. Und die Missverständnisse, die entstehen, sind nicht kontrollierbar. Zum anderen bin ich ja so ein bisschen Faschismusforscher. Ich meine damit eher den soziologischen Begriff des Faschismus. Faschismus ist für mich auch, wenn so eine „woke“, ach so aufgeklärte Blase auf Twitter sich über Leute hermacht, die sie zu Feinden erklärt oder für ihre Feinde hält und gar nicht hinterfragt, wer diese Leute sind. So kritisch ich zum Beispiel auch Dieter Nuhr gegenüberstehe: Dieter Nuhr ist kein Nazi. Er ist auch nicht reaktionär. Das ist ein Vorwurf, der von Leuten kommt, die eigentlich die Abstraktionsgabe haben müssten, das zu wissen. Man kann nicht Kabarettisten vorwerfen, dass sie Texte sprechen, die sie nicht meinen. Ironie und Sarkasmus gehören zu unserer Arbeit, genauso wie die Verantwortung immer wieder Debatten anzustoßen, indem wir nicht gefällig sind, sondern auch Risiken eingehen anzuecken. Wer das nicht unterscheiden kann, der versteht etwas mutwillig falsch. Und das ist unredlich.
Mich stört daran, dass Leute aus beiden Lagern damit Energie und Zeit verpulvern, die eigentlich in die gleiche Richtung arbeiten.
Somuncu: Ja und das ist letztendlich total kontraproduktiv und sogar willkürlich destruktiv. Denn eigentlich haben wir schon genug zu tun, wenn wir gegen echte Nazis kämpfen wollen. Stattdessen kommt dann mal so ein Ding wie vor zwei Jahren in Chemnitz. Da fährt die Karawane der Berufsbetroffenen eben mal rüber, gibt ein Konzert, Campino gibt ein paar Interviews, alle sagen „Wir sind mehr“ - zwei Wochen später tummeln wir uns wieder auf Twitter und beschuldigen uns gegenseitig, Nazis zu sein. Wir brauchen mehr glaubwürdiges Engagement statt oberflächlicher Empörung. Denn alles andere ist pure Energieverschwendung und geht total am Ziel vorbei. Empörung ist eigentlich ein Zeitvertreib von chronisch Geltungssüchtigen. Ich habe mittlerweile das Gefühl, dass Leute, die etwas aufdecken wollen, gar keinen Überblick mehr auf ihr eigenes Denken haben und nicht merken, wie paradox sie sich eigentlich verhalten, wenn sie nicht merken, dass sie dabei Teil einer fast schon faschistoiden Struktur werden. Denn die Geschwindigkeit, in der da geurteilt wird, und auch die Wucht und Gewalt, mit der da Menschen diskreditiert und auch diskriminiert werden übrigens, die ist nicht gut. Und die ist zum Teil nicht aufzuhalten. Das ist eine Energie, die sehr, sehr unberechenbar ist. Und die total fehlläuft, bei den Anklägern genauso wie bei den Beklagten.
Gibt es einen Ausweg für Künstler?
Somuncu: Das einzige Mittel, die einzige Lösung ist, entweder stillzuhalten und es über sich ergehen zu lassen, oder einfach so weiterzumachen wie bisher. Und darauf zu hoffen, dass es genug andere Leute gibt, die dieser vermeintlichen Mehrheit – denn es ist ja eigentlich gar keine Mehrheit, sondern eine verschwindend geringe Minderheit – etwas entgegensetzen. Das ist schwer. Ich habe ein dickes Fell, aber wenn ich nach dreißig, fünfunddreißig Jahren aufrichtiger Bühnenarbeit, zum Teil gefährlicher Arbeit vor Nazis, die mich bedroht haben, selbst als Rassist beschimpft werde, reißt mir nicht nur die Hutschnur, sondern da bin ich kurz vor – nicht Resignation, aber sagen wir einmal Frustration.
Ich sehe Sie erst seit gut 15 Jahren live. Tatsächlich habe ich vorher noch nie auf einer Kabarettbühne so geballt rassistische und frauenfeindliche Klischees um die Ohren geschlagen bekommen wie etwa 2009 von Ihnen im Karlstorbahnhof. Allerdings ist mir im Erschrecken über meine Reaktion darauf auch klar geworden, dass meine Denkstruktur von strukturellem Rassismus befallen ist. Obwohl ich mich in dem Punkt für völlig unverdächtig gehalten hätte. Eigentlich sind Sie ja geradezu der Pionier der identitätspolitischen Bewegung, die Sie heute am liebsten mundtot machen würde, und nicht deren Feindbild, oder?
Somuncu: Danke für das Kompliment, aber ich sehe das immer aus kunsttheoretischer Sicht. Ich versuche mich etwas rauszuziehen aus dieser polemisch-politischen Debatte um richtig und falsch. Und wenn man eine Aufgabe von Kunst definieren kann, dann ist es, dass Kunst immer die Realität wiedergibt in einer subjektiven und reflektierten Art. Und wenn man jetzt versuchen würde, jegliche Kunst, die dem eigenen Realitätsverständnis widerspricht, zu eliminieren, dann würde man Kunst vernichten. Kunst ist manchmal auch expressionistisch, Kunst überzeichnet auch, wenn Sie sich Bilder von George Grosz ansehen, da sind die Menschen nicht hübsch. Oder Marc Rothko, da sind die Bilder nicht bunt. Wenn sie eine Depression malen, dann ist das Bild halt schwarz. Und wenn Sie mit der Farbe Schwarz andere Dinge assoziieren, dann ist das Ihr Problem und kein politisches Problem.
Was hat das für Folgen für den Diskurs in unserer Gesellschaft?
Somuncu: Also für mich ist das gruselig. Und es wird schlimmer, wenn Leute über Dinge urteilen, die sie nur marginal wahr genommen haben, und dabei in ihrer Art zu urteilen, selbst diskriminierend werden. Ein Beispiel: Ich bin oft im Kontext dieses angeblichen Skandals um den Podcast mit Florian Schroeder angegangen worden. Zum Beispiel von Frauen, die gesagt haben: „Das ist ja ein typisches Macho-Gehabe, dass dieser Kerl (da bin ich dann plötzlich der Kerl), sich erlaubt, so über uns Frauen zu sprechen.“ Also vollkommen aus dem Kontext gerissen und sexistisch dazu. Dabei weisen sie mir aber gleichzeitig eine Rolle zu, indem sie sagen: „Du als türkischer Kabarettist hast nicht das Recht, einen Rassisten so gut zu spielen, ohne ein echter Rassist zu sein.“ Ich soll also in meiner eigenen Sparte bleiben, kann ein bisschen Akzentkabarett machen, „Was guckst du?“ sagen und mit langen Haaren wedeln. Aber wenn man sich über Muslime lustig macht oder Erdogan einen Ziegenficker nennt, soll man sich nicht so anstellen. Hier wird mit zweierlei Maß gemessen, und wer die Freiheit der Kunst in Schutz nimmt, der kann seine eigene Befindlichkeit zum Maßstab über das machen, was gesagt werden darf und nicht. Sobald ich aber anfange, undefinierbar zu sein, indem ich mir das Recht nehme, deutsch zu sprechen und als Deutscher zu agieren, vergisst man den Kontext und macht mich wieder zum Türken. Und das ist aus meiner Sicht genauso rassistisch. Darüber könnte ich mich genauso aufregen. Ich habe Gottseidank das Abstraktionsvermögen und auch die Toleranz auszuhalten, dass Menschen mich vielleicht missverstehen oder das, was ich mache, nicht mögen. Aber wenn die dann auf einer Ebene landen, wo nur noch Vorwürfe zählen und man Vorwürfe konstruiert, um sich selbst als gekränkte Minderheit zu stilisieren, geht das komplett am Sinn der Sache vorbei. Dann sind wir irgendwann ein Volk von 82 Millionen Beleidigten. Ob schwarz, weiß, Türke oder Deutscher. Ob als Frau, als Mann, als Dicker oder Glatzkopf. Jeder kann sich angesprochen fühlen oder keiner. Nicht der Sprachgebrauch entscheidet über eine Kultur der Toleranz, sondern die Glaubwürdigkeit und Ausdauer der eigenen Haltung.
Sie sprachen vom Sinn der Sache. Können Sie das konkretisieren?
Somuncu: Der Sinn der Sache muss bleiben, dass wir in Deutschland aufgeschlossen genug sind, Kunst von Politik zu unterscheiden. Und dass wir der Kunst ihren eigenen Raum lassen und versuchen, gemeinsam Ziele zu erreichen, wie zum Beispiel Intoleranz zu bekämpfen. Wenn wir aber anfangen, alles so zu sezieren und mit der Pinzette an jeden Satz rangehen und Leute verdächtigen, die vollkommen unverdächtig sind, verschwenden wir auf der einen Seite nicht nur Energie, sondern wir erreichen dieses Ziel auch nicht. In Gegenteil: Die Nazis lachen sich über uns kaputt.
Auf beiden Seiten dieser Debatte stehen hochintelligente Leute. Müsste da nicht irgendwann der noch etwas Klügere nachgeben? Und in unserer viel provozierbarer gewordenen Gesellschaft müssten doch auch Sie Ihre Arbeitsweise etwas überdenken. Nach Halle oder Hanau passen bestimmte Punchlines doch einfach nicht mehr in die Zeit, oder?
Somuncu: Ja, unbedingt. Und da gebe ich Ihnen auch vollkommen Recht. Es ist auch meine Aufgabe, das zu überprüfen. Kunst ist natürlich eine Frage des Kontextes, in der sie stattfindet. Und wenn wir Künstler so stur wären, dass wir unseren Stiefel einfach durchziehen und sagen, jeder kann beleidigt werden, und der soll sich mal nicht so anstellen, dann würden wir außer Acht lassen, dass Befindlichkeiten existieren, die durch bestimmte Ereignisse verursacht und verstärkt werden. Aber auch da: Was mich stört, ist die Eingleisigkeit und die damit verbundene Ver-logenheit: Wenn Islamisten oder Menschen islamischen Glaubens sagen, „Wir fühlen uns dadurch angegriffen, dass eine Karikatur von Mohammed auf der Titelseite erscheint“, schreit die ganze westliche Welt auf und sagt: „Stellt euch nicht so an, wir haben hier ganz andere Regeln, das ist Kunst, das ist Satire. Das müsst ihr ertragen.“ Wenn Böhmermann ein Gedicht vorliest, zwar in einem Kontext, der ganz klar definiert ist, aber türkische Mitbürger das nicht verstehen und sagen, „Wir fühlen uns angegriffen allein durch die Wortwahl und das Bild, das dabei entsteht“. Dann sagen die gleichen Leute, die in der woken Blase bei Twitter anderen Rassismus vorwerfen: „Jetzt stellt euch mal nicht so an. Wir leben hier nach ganz anderen Prinzipien, nämlich der Freiheit der Kunst allen voran und der Satire.“ Vollkommen absurd wird es dann, wie in dieser WDR-Diskussionsrunde „Die letzte Instanz“, wo dem WDR vorgeworfen wird, eine Diskussion geführt zu haben, ohne Betroffene eingeladen zu haben. Ist es nicht genauso rassistisch, wenn man Betroffene zu einer Diskussion über sich selbst einlädt? Ist es nicht erst dann kein Rassismus mehr, wenn überhaupt nicht wichtig ist, wer da sitzt? Unsäglich. Und dann sitzt da auch noch ein Kollege, der als Autor eines menschenverachtenden Formats sonst Witzchen schreibt und sich bei Twitter wie ein virtuelles Waschweib über alles äußert und den Moralapostel spielt. Der sich dann aber bei der Frage, „Ist es übertrieben, Zigeunerschnitzel nicht mehr sagen zu dürfen?“ kurzzeitig vergisst und in den Kanon der der medialen Wutbürger einstimmt, um sich dann wenig später kleinlaut auf Clubhouse zu entschuldigen.
Wo ist heute Ihre eigene Schmerzgrenze in ihrer eigenen Arbeit angesichts der Bedrohungen und Gewalt im Internet und in der realen Welt? Zum Beispiel Dieter Nuhrs Witz über Greta Thunberg war per se eigentlich unproblematisch, wenn die junge Frau nicht ohnehin schon im Zentrum von extremem Hass und Drohungen stehen würde.
Somuncu: Ja, das ist das Problem, deshalb muss man als Künstler auch sehr genau überlegen, inwieweit das Mittel auch den Zweck heiligt. Meine persönliche Grenze ist freigestellt. Und wenn ich merke, dass jemand über mich Witze macht, dann zählt für mich nicht, ob ich mich dabei in irgendeiner identitären Facette meines Daseins angegriffen fühle, sondern ich lache über diesen Witz oder ich lache nicht über diesen Witz. Ich lasse mich von Witzen nicht beleidigen. Ich bitte Sie, wo wäre ich da? Aber natürlich, wenn ich auf der Bühne stehe, denke ich auch darüber nach und frage mich, muss ich das jetzt sagen? Was bringt das? Die Gefahr missverstanden zu werden, ist so groß, dass ich danach auch nicht mehr rauskomme aus den Vorwürfen.
So ähnlich wie bei Ihrer Inszenierung von Taboris „Mein Kampf“ 2018 in Konstanz?
Somuncu: Als ich das Stück inszeniert habe, dachte ich: „Okay, wir sind hier im Theater, und jeder, der hier sitzt, weiß, dass er sich in diesem rechtsfreien Raum bewegt. Und jeder kann das auch einordnen.“ Aber selbst da war es ja so, dass jüdische Verbände protestiert haben, obwohl wir ja eine Idee hatten, die ihre Anliegen in Schutz nehmen sollte und ganz klar erklärt war. Auch da hat das Theater aus Angst, Schaden zu nehmen, diese Idee unterwandert oder zurückgenommen, was ich sehr traurig fand. Da war sie wieder, die Angst vor dem Aufschrei, die größer ist als der Mut, seine Arbeit vor den Vorwürfen einer sensationslüsternen Meute zu bewahren. Und deshalb entscheidet man leider viel zu oft, es nicht zu sagen oder nicht zu tun, und macht damit auch seine eigene Kunst kaputt. Weil es dann aalglatt und ängstlich wird.
Beißen Sie sich trotzdem manchmal selbst auf die Zunge?
Somuncu: Nein. Das ist ja ein Unterschied. Sobald ich auf der Bühne bin, wird wieder anders gerechnet. Es gibt ja noch einen anderen Faktor, den dürfen wir nicht außer Acht lassen. Wir sind gerade weltweit in einer Ausnahmesituation. Und vielleicht lenken wir uns gerade auch ein bisschen damit ab, dass wir uns eine Ersatzdiskussion schaffen.
Zum Beispiel die Debatte um Dieter Nuhr war aber vor der Pandemie.
Somuncu: Da muss ich sagen, er provoziert das aber auch. Er ist jemand, der sehr selbstreferentiell ist und immer wieder Öl ins Feuer gießt. Eine Aussage, die ich von ihm sehr unklug und sehr bewusst gesetzt fand, war in dem Gespräch auf Phoenix. Dort hat er die gegen ihn gerichteten Shitstorms mit Pogromen verglichen. Wenn einer dieses Wort benutzt, weiß er, dass dadurch die Diskussion nicht beendet ist, sondern dass er sie dadurch noch weiter anheizt. Und das finde ich vorsätzlich. Das ist eine Provokation, die nicht mehr notwendig ist. Aber das ist auch okay. Wir sind alle auch ein bisschen Narzissten. Leider ist das nicht mehr zweckdienlich. Das ist für mich der Maßstab. Wenn das, was ich tue, nicht mehr dem dient, was ich erreichen will, dann mache ich es nur, um mein Geltungsbedürfnis zu befriedigen.
Das passiert Ihnen nie?
Somuncu: Da bin ich ehrlich gesagt sehr uneitel. Ich gehe nicht auf die Bühne, um über mich zu sprechen, sondern ich habe immer ein Thema. Wer meine Vorstellung sieht, der weiß, dass sie aus zwei Teilen besteht: der Provokation und dem aufklärenden Teil, in dem ich immer auflöse, warum ich was mache. Und wenn ich das nicht könnte, dann wäre ich so einer wie Chris Tall, der auf die Bühne geht und sagt: „Heute fackeln wir die Bude ab, heute ist Reichs-Chris-Tall-Nacht.“ Das ist ein dummer Witz, den man einfach nur macht, um damit Lacher zu erzeugen. Und da würde ich mich ehrlich gesagt als Opfer des Nationalsozialismus auch diskriminiert fühlen.
Sie erreichen live ein sehr breites Publikum bei Auftritten wie im Rosengarten. Darunter auch viele, die auf Krawall und Zoten hoffen, aber dann sehr nachdenklich den Raum verlassen. Da scheint der aufklärende Teil mehr als vieles andere zu bewirken, wenn ich mich an die Diskussionen im Publikum nach der „Hassias“-Show erinnere. Ist das Ihr Ziel?
Somuncu: Auf jeden Fall, das ist Absicht. Ich bin ja ein Fremdgänger. Ich komme ja nicht aus der Comedy-Szene, die von RTL gepuscht wird und wo Leute ein und denselben Witz zwanzig Mal hören wollen, um darüber konditioniert zu lachen. Bei mir ist jeder Abend ein anderer Abend. Und so wie das Publikum sich auf mich einlässt, so lasse ich mich auf das Publikum ein. Denn die Aufgabe, die ich für uns gemeinsam sehe, ist, unsere Denkstruktur zu hinterfragen und nicht, uns auf der sicheren Seite zu wähnen, weil wir das Kreuz an der richtigen Stelle machen und ach so links sind und ökoliberal oder was auch immer. Sondern wir sind alle empfänglich für Demagogie. Wir leben gerade in einer Phase, in der man kaum unterscheiden kann, ob das, was in den Medien geschieht, irgendeinem anderen Zweck dient oder ob es zu unserer Information da ist. Und bevor wir es auf der Straße den Leuten überlassen, „Lügenpresse“ zu brüllen, würde ich mir wünschen, dass wir uns eingehend und differenziert mit der ganzen Sache auseinandersetzen, um eine Meinung dazu haben zu können. Und das ist in meinem Programm der Kern. Es geht immer auch darum, wie ich mir meine Meinung bilde. Was ist Aufklärung? Wo stehe ich? Wie kann ich sagen, was ich denke, wenn ich mich selbst nicht kenne? Das ist psychologisch-politisch, das ist auch theatralisch. Das hat manchmal eine Dramaturgie, die nicht jeder durchschaut. Aber es hat einen Effekt. Die Leute, die bei mir nach der Vorstellung rausgehen, sagen garantiert nicht, dass ich Rassist oder Sexist bin.
Sie hätten auch unter Pandemie-Bedingungen gern zumindest im Capitol gespielt. Der Auftritt wurde wieder verschoben. Haben Sie Hoffnung auf Live-Auftritte?
Somuncu: Ich pendle zwischen absolutem Pessimismus und Zweckoptimismus. Ich bin ganz sicher, dass es dieses Frühjahr nicht klappt. Deswegen haben wir die Tour auch weit nach hinten verschoben auf den Herbst. Die Frühjahrstour 2022 stand schon vorher fest, die haben wir deshalb nicht verschoben. So kreuzen sich jetzt die neuen und die alten Programme. Mein Tipp, meine Hoffnung und Vermutung ist, wir werden im Sommer auf jeden Fall aus dieser akuten Krisensituation rauskommen. Aber ob dann die Veranstalter überlebt haben? Ob dann die Leute zu 600 oder 1000 in einen geschlossenen Saal gehen? Das sind Fragen, die kann ich Ihnen nicht beantworten. Tendenziell würde ich eher sagen, nein. Ich will das auch nicht zu schwarz malen, aber wir haben den Höhepunkt der Krise derzeit noch nicht einmal überschritten. Wir werden diese gewachsenen Strukturen, die es vor der Krise gab, ohne Aufwand, ohne Akzeptanz in der Bevölkerung nicht erhalten können. Aber wenn Sie sehen, wie Leute zum Beispiel auf meine Facebook-Einträge reagieren, wenn ich schreibe „Die Kultur liegt brach, wir müssen unbedingt was tun“, dann ist das erschreckend.
Was genau?
Somuncu: Wie viele da schreiben: „Such dir einen anständigen Job! Kultur braucht keiner! Es gibt genug Leute, die Spargelstechen gehen! Ihr habt viel zu lange gut gelebt!“ Das ist ernüchternd. Und deshalb glaube ich, die subventionierte Kultur wird es weiter geben, da wird das staatliche Geld hinfließen. Die freie Kultur, die ja ohnehin sich erst in den letzten 20,30 Jahren aufgebaut hat, wird noch einmal bei null anfangen. Und wenn es einen Vorteil gibt, dann wird das natürlich auch zu einer Auswahl führen, zu einem Filter. Vieles wird auch wegfallen. Da hatte sich natürlich auch viel angesammelt, das davon gelebt hat, dass es sich für selbstverständlich hielt. Aber das ist nicht gut. Vielfalt ist immer besser als Monokultur. Und wir werden das aber kriegen. Die großen Kinos werden überleben, die Blockbuster werden weiter gezeigt werden, aber Programmkinos, alternative Filme, können Sie sich dann zu Hause streamen. Und kleine Kabarettveranstaltungen mit 50 bis 100 Leuten – tja. Da finden Sie erst mal einen Veranstalter, der das macht, und dann die Zuschauer, die das Geld zahlen.
Der Pessimismus scheint zu überwiegen.
Somuncu: Aber es ist auch eine Chance. Ich habe aufgehört zu beklagen, dass es nicht mehr so ist, wie es war. Sondern ich sehe jetzt nach vorne. Wenn wir einen Vorteil haben, den wir aus der Krise ziehen können, dann den, dass wir gerade sehr viele technische Möglichkeiten haben, auch auf anderen Wegen Zuschauer zu erreichen. Und da stehen uns die großen Plattformen genauso zur Verfügung wie Firmen, die die Technik bereitstellen. Wenn ich heute auf YouTube gehe oder auf Twitch, da kann ich Geld verdienen, indem ich lese, was ich auch mache zurzeit. Ich lese "Robinson Crusoe" vor, komplett den ganzen Roman, immer zwei Kapitel. Und Leute können freiwillig etwas dazugeben. Das ist zwar ein bisschen so, als würde ich Straßenmusik machen wie vor 40 Jahren, aber das ist mir egal. Denn ich bin der Meinung, ich bettle da nicht, ich arbeite, und Kunst und Kultur haben es verdient, auch bezahlt zu werden. Und da muss man als Künstler eben auch selbstbewusst genug und bescheiden genug sein, um zu sagen: „Okay, ich nehme das, was ich kriegen kann. Hauptsache, ich kann das auch anbieten, was ich machen möchte.“ Wenn die Künstler bereit sind, das zu tun, gibt es viele Wege und Möglichkeiten. Aber letztlich bleibt das Live-Erlebnis und auch das kollektive Live-Erlebnis das einzige, was mir jedenfalls die größte Befriedigung verschafft. Und ich hoffe, dass es eines Tages zurückkommt. Aber wenn ich mir die Politik angucke und eben auch die mangelnde Toleranz in der Gesellschaft, glaube ich, dass das ein schwerer Kampf werden wird, den nur wenige überleben werden.
URL dieses Artikels:
https://www.mannheimer-morgen.de/leben/treffen_artikel,-menschen-in-der-region-kabarettist-serdar-somuncu-die-nazis-lachen-sich-ueber-uns-kaputt-_arid,1775227.html