Reichenau. Hier darf nicht jeder rein. Luftfeuchtigkeit, Ausdünstungen von Touristen – all das ist Gift für das, was dieser außen sehr schlichte Bau im Innern bietet. Daher werden nur wenige, kleine Gruppen eingelassen, Türen schnell geöffnet und wieder geschlossen. Dahinter befindet sich etwas, was Julia Sieß „einzigartig“ nennt: der Zyklus von monumentalen mittelalterlichen Wandbildern in der Kirche St. Georg auf der Insel Reichenau. „Die sind einmalig in dieser Art, das findet man nördlich der Alpen nicht mehr“, so Sieß.
Sie ist Historikerin und zugleich seit langer Zeit als Oberministrantin in der katholischen Kirchengemeinde der Klosterinsel engagiert. Und sie kann hervorragend erklären, was in der in der Ära des Abtes Hatto (888 bis 913) gebauten Kirche zu sehen ist. Er hat eine dreischiffige romanische Säulenbasilika errichten lassen, weil der Papst ihm eine Kopfreliquie des Heiligen Georg geschenkt hatte, für die unter dem Chor eine Hallenkrypta angelegt worden ist.
Bilderzyklus zeigt die Wunder von Jesus Christus
In der Vorhalle dürfen die Besucher warten, ehe sie zu den Wandgemälden vorgelassen werden. Mit den Vorsichtsmaßnahmen wolle man den Verfall wenigstens aufhalten, sagt Sieß. Nicht alle Generationen haben die mittelalterlichen Werke indes so geschätzt. Spätestens 1620 sind sie völlig übermalt gewesen, erst 1879 hat man sie wieder entdeckt, beim Versuch der Freilegung aber teils beschädigt. Inzwischen ist der Zyklus aufwendig restauriert, aber weiter bedroht.
Dabei handelt es sich wirklich um ein einmaliges Werk, faszinierend in der Ausdruckskraft und Detailtiefe. „Die Kirche kann überfordern“, räumt Sieß ein. Aber mit ihrer Hilfe lassen sich die acht jeweils großflächigem, mehr als vier Meter breiten und über zwei Meter hohe Wandbilder hervorragend lesen und verstehen, zudem gibt die Perspektive der Mäander die Reihenfolge vor.
Letztlich handelt es sich um ein, wie es Sieß formuliert, „Werbeprogramm für Christus“, zeigen die Bilder doch Wundertaten Jesu und seine Macht über Naturgewalten und Tod, etwa bei der Beruhigung des Sturms auf dem See Genezareth, die Heilung des Blinden, des Aussätzigen oder des Besessenen, gar die Auferweckung des Lazarus, der – ganz besonders eindrucksvoll – als bereits gesalbte, mit Binden umwickelte Leiche dargestellt wird. „Obwohl schon das Stadium der Verwesung beginnt – Jesus bezwingt den Tod“, so Sieß. In der Westapsis, über der Ausgangstür, blickt der Besucher schließlich auf das Weltgericht.
Tipps für Besucherinnen und Besucher
Jubiläumsticket: Das Jubiläumsticket Reichenau beinhaltet Eintritt ins Museum Reichenau, Eintritt in die Münsterschatzkammer (Mo-Sa 10-12 und 15-17 Uhr und So 15-17 Uhr) sowie ein Tagesticket für die Buslinie 204 und den Inselbus. Erwachsene zahlen 12, Erwachsene ermäßigt neun, Kinder (6 bis 17) sechs Euro.
Ausstellung Konstanz: „Welterbe des Mittelalters – 1300 Jahre Klosterinsel Reichenau“ ist bis 20. Oktober im Archäologischen Landesmuseum Baden-Württemberg, Benediktinerplatz 5, 78467 Konstanz, zu sehen.
Kombiticket: enthält Ausstellung Konstanz, Museum Reichenau, Münster-Schatzkammer & Inselbus für Erwachsene 23 Euro, ermäßigt, 20 Euro, Kinder 6 bis 17 Jahre 11 Euro.
St. Georg: vom 20. April bis 20. Oktober nur im Rahmen von Führungen täglich: 11, 13 und 16 Uhr zu besichtigen.
Museum Reichenau: täglich 10.30 bis 17.30 Uhr, von November bis März Samstag, Sonntag & Feiertag 14 bis 17 Uhr. In der Saison mittwochs und freitags um 11 Uhr öffentliche Führung.
Inselfest: 15. August Mariä-Himmelfahrt und Reichenauer Welterbetag. 8.45 Uhr Parade der Bürgerwehr, 9 Uhr Festgottesdienst mit Kardinal Jean-Claude Hollerich SJ, Erzbischof von Luxemburg, dann Prozession. pwr
„Da im Mittelalter nur wenige Menschen lesen und schreiben konnten, hat man ihnen mit solchen Bildern die Evangelien erklärt“, erläutert sie. An der Nordwand weist sie noch auf etwas Besonderes hin. Dort wird das „PlaPla der Frauen“ während des Gottesdienstes beklagt, das auf keine Kuhhaut ginge. Das sei „die älteste Darstellung des Sprichworts: Das geht auf keine Kuhhaut“ – sprich es ist mehr als auf die vom Teufel auf Pergament, also auf Tierhaut, geführte Liste mit den Sünden jedes Menschen passt.
Nicht nur Julia Sieß führt in diesem besonderen Jahr 2024 sehr viele Besucher in die drei romanischen Kirchen auf der 1,5 Kilometer breiten, 4,5 Kilometer langen Insel. Gefeiert wird die Gründung des Klosters im Jahr 724 durch Wanderbischof Pirmin. Hannah Bauersachs ist daher ebenso viel gefragt, die das Münster St. Maria und Markus, die Abteikirche des Klosters Reichenau, zeigt. „Die Bude brummt“, sagt die promovierte Kunsthistorikerin salopp, denn durch das Jubiläum strömen in diesem Jahr besonders viele Besucher. Es bleibt dennoch eine beschauliche, ja entschleunigende Insel mit herrlichen Spazierwegen vorbei an großen Gemüsefeldern oder am Ufer entlang – aber sie bietet zudem viel klösterliche Geschichte an Originalschauplätzen. Und da spüren die Gäste, dass die Inselbewohner stolz auf ihre von der UN-Kulturorganisation UNESCO als Welterbe eingestufte Vergangenheit sind, und mehr als das: „Wir haben nicht nur drei Feiertage mehr als im Bundesland, hier wird die Spiritualität noch gelebt“, betont Bauersachs.
Zum Markus-Fest am 25. April, beim Heilig-Blut-Fest am Montag nach Dreifaltigkeitssonntag und an Mariä Himmelfahrt am 15. August ruht die Arbeit auf der Reichenau, alle Kinder haben schulfrei – und nicht nur einfach frei: Mit Bürgerwehr, Trachtengruppe sowie Vereinen gibt es Prozessionen, werden die wertvollen Reliquien verehrt.
Dazu zählt etwa die Heilig-Blut-Reliquie, im Jahr 925 dank Karl dem Großen von Jerusalem auf die Reichenau gelangt. Dabei handelt es sich um ein kleines, aus vergoldetem Silber gearbeitetes byzantinisches Abtskreuz, das der Überlieferung zufolge blutgetränkte Erde von Golgatha, Splitter vom Kreuz Christi und ein blutgetränktes seidenes Tüchlein enthalten soll. Aufbewahrt wird es in einem roten, barocken und prachtvollen Altar im Münster.
Wer vom Chorraum ein paar Stufen tiefer geht, kommt zur Schatzkammer des Münsters. „Wir haben hier einige außergewöhnliche Stücke, sind durchaus auf Augenhöhe mit der Domschatzkammer Aachen“, betont Hannah Bauersachs. In der ehemaligen Sakristei stehen aus dem 15. Jahrhundert stammende Eichenholzschränke mit Eisenbeschlägen („Früher die Tresore“, sagt sie), die ebenso wertvolle liturgische Geräte beinhalten wie die zahlreichen gläsernen Vitrinen.
Wertvolle Schätze und ein geheimnisvoller Smaragd
Eigens zum Jubiläum ist die Schatzkammer im Hinblick auf Sicherheit und konservatorische Bedingungen saniert, die Präsentation der Kunstgüter modernisiert worden. Der Stab der Krümme des Reichenauer Abtes Eberhard von Brandis, Monstranzen, Vortragekreuze und Handschriften sind da ebenso zu sehen wie mit Edelsteinen besetzte Reliquiare und Schreine oder der Krug von Kana. In jenem Gefäß soll Jesus von Nazareth als Gast einer Hochzeitsfeier Wasser in Wein verwandelt haben, ehe er um das Jahr 900 durch Abt Hatto auf die Klosterinsel gelangt. Als „spannendes, mystisches Objekt“ hebt Bauersachs den „Reichenauer Smaragd“ hervor, ein in Holz gefasster, grün gefärbter Glasfuß, „von dem wir nicht wissen, welche Funktion er hatte“. Verehrt wird er dennoch seit Jahrhunderten.
Aber ist das alles echt, der Arm des einen, der Kopf des anderen Heiligen? Oder gar das, was im kostbaren Markusschrein liegt, der Überlieferung nach einen Teil der Gebeine des Evangelisten Markus? Bauersachs empfiehlt zweifelnden Touristen den „Echtheitstest“, wie sie sagt. „Legen Sie einfach die eine Hand auf die Reliquie, die andere in heißes Wasser“, die Reliquie beschütze einen dann, rät sie. Irgendwie will aber keiner den Test machen, sondern lieber die Sonne im neu gestalteten Klostergarten genießen.
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