Paris lässt den in Bielefeld geborenen und heute in Bad Godesberg lebenden Schriftsteller Jan Turovski nicht los. Als Student lebte er einige Jahre in Frankreichs Hauptstadt. Seither kehrt er immer wieder in diese Stadt zurück, wenn auch nur in Gedanken. Auch sein neuester Roman „Joy“ spielt in Paris. Veröffentlicht hat er ihn in demselben Band mit „Nackt und Nebel“, dessen Handlung in Deutschland angesiedelt ist. Schon der erste Titel lässt erkennen, dass im Mittelpunkt dieser Kurzromane Frauen stehen, Thema vieler seiner vorangegangenen Romane wie „Der Fall Odile Féret“ (2017), „Madame Bourgin“ (2018) oder „Die Frau aus dem Plakat“ (2022).
Die Gedankengänge des Haupthelden – in beiden Romanen ist es ein Ich-Erzähler mit unverkennbar autobiografischen Zügen – kreisen unaufhörlich um verdeckte Sehnsucht und Leidenschaft, um Begehren und Verlust. Höchst originell entwickelt der Autor Turovski seine Geschichten, er erzählt – kunstvoll reflektierend – von der Bereitschaft, sich als Mann immer wieder neu zu erfinden, und von zwei Frauen, zwei Versuchen, damit zurande zu kommen, dass die Zeit nicht stillsteht.
In „Joy“ ist es eine junge Französin mit amerikanischem Namen, die der Ich-Erzähler unwiderstehlich findet. Während seiner Streifzüge durch Paris schiebt sich in sein Blickfeld stets ihr Bild, aber auch Historisches, Literarisches, das mit seinem Leben korrespondiert. Sartre und Camus tauchen auf, George Sand oder Baudelaire. Erklärt wird nichts, auch nicht, was tatsächlich passiert.
Traumwelten kippen in die Wirklichkeit und die Wirklichkeit kippt in den Traum. Die Konturen der kurzen Textabschnitte, die kaleidoskopartig ineinandergreifen, bleiben unscharf und beschwören eine Gegenwart, in der auch viel Vergangenes und Fantastisches mitschwingt: „Ich laufe die Rue Monsieur le Prince hinab, die ich mag. Es ist, als sei Joy ein Computerbild, in Millionen Punkte zerlegt. Ein Punktepuzzle, das niemand zusammensetzen kann …“, heißt es in einer Passage. Mit dem Protagonisten betritt der Leser bekannte Pariser Straßen und Viertel, aber auch eine Sprachlandschaft, wo Aussagen umgewandelt werden ins Konträre und so für Mehrdeutigkeit sorgen.
Das Ewig-Weibliche zieht den Ich-Erzähler auch in „Nackt und Nebel“ hinan. Hier beobachtet er in einer nicht näher definierten ländlichen Gegend seine Nachbarin „Bernadette“, die splitternackt Wäsche aufhängt: „Nachtblau war sie, nackt, es herrschte sanfter Nebel …“ Und sie entfacht in ihm eine Leidenschaft, die er nur schwer zügeln kann. Was die Zukunft bringt, bleibt so unbestimmt und offen wie alles in dieser Geschichte. Es gibt keine Handlung, keine dramatische Zuspitzung, stattdessen Ungewissheiten und eine Erzählweise, die den Leser spiralartig hineinführt in eine schwer fassbare, rätselhafte Wachtraumwelt. Gewiss, Turovski macht Mühe, seine Texte erfordern geduldiges Lesen. Bringt man jedoch diese Geduld auf, wird man reichlich belohnt.
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