Was Sie schon immer über die „Recherche“ erfahren wollten, Marcel Prousts großen Roman „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ – hier liegt es nun vor! Geradewegs mit einem Glücksgefühl schlägt man das schön gemachte Buch auf. Dass es diese 75 Blätter gibt, hat man seit mehr als 100 Jahren durch den Proust-Forscher Bernard de Fallois schon gewusst, doch erst in dessen Nachlass tauchten sie im Jahr 2018 dann auf.
Bei Gallimard erschienen sie 2021, jetzt sind sie, auf höchstem Niveau ins Deutsche übertragen von Andrea Spingler und Jürgen Ritte, für den Proust-Verehrer auch hierzulande greifbar. Was erfährt man daraus Neues? Nun, die Szenen und Personen, die uns hier sehr kurz, gleichsam ein überscharfes Blitzlichtfoto, begegnen, sind einerseits bekannt, doch anderseits hier im Ursprungszustand frühester Erinnerung vorhanden. Sie geben sozusagen Aufschluss über den Genpool jenes Opus Magnum, das die gesamte „Belle epoque“ so unersättlich wie gewissenhaft durchmisst.
Was ist ihr Thema? Es sind die erfüllten und die unerfüllten Wünsche. Der mütterliche Gutenachtkuss wird erwähnt, der ein Motor der Erinnerung wird. Das Drama des Zubettgehens, die Tränen des kleinen Jungen und Ich-Erzählers Marcel; das Gesicht der Mutter wird mit großer, schier grenzenloser Zärtlichkeit und Liebe evoziert.
Die Demoiselles am Meer: Sie werden Proust 1919 dann den Prix Goncourt eintragen. Adelsnamen, Venedig: Alles ist bereits vorhanden, jedoch noch in einem halbnaiven Bekennerton. Dieser nicht zuletzt macht aber viel vom Charme dieser 75 (es sind in Wahrheit 76) Blätter aus. Wie Marcel Proust sein aberwitziges, quasi ererbtes Material später in jahrzehntelanger wahrhafter Knochenarbeit, ein absurdes Puzzle in nie dagewesenem Maßstab, auf die Nachwelt bringt, erscheint einem heute geradewegs als ein Hexenwerk.
Und wenn Proust zu guter letzt hier das liebende Erinnern selbst zum Gegenstand des autofiktionalen Plauderns macht, dann steht die Zeit für immer still. Das literarische Ergebnis steht für nicht weniger als Unsterblichkeit.
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