Ein Liebesroman von Liao Yiwu? Warum eigentlich nicht, auch wenn es uns überraschen würde. Doch der im chinesischen Original 2016 erschienene Roman „Die Liebe in Zeiten Mao Zedongs“ des im deutschen Exil lebenden und mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels geehrten chinesischen Regimekritikers gehört trotz des Titels, der diesen Eindruck erweckt, der Gattung letztlich überhaupt gar nicht an.
Die eingefleischten Fans des Genres jedenfalls würde er kaum zufriedenstellen. Und das nicht nur, weil die erotischen Abenteuer und Liebesbeziehungen Zhuang Ziguis, des Romanhelden, keineswegs der Hauptinhalt sind. Das Buch ist vielmehr ein politischer Roman, geschrieben „in Erinnerung an Chinas Große Proletarische Kulturrevolution vor fünfzig Jahren 1966-2016“, wie wir erfahren, noch ehe wir das erste Kapitel aufgeschlagen haben. Die Ironie ist unüberhörbar.
Fanatismus und Ideologie
Zhuang Zigui, glühender Anhänger von Diktator Mao Zedong, hat sich als Sohn von Eltern, die – so die seinerzeitige Sprachregelung – der Ausbeuterklasse angehören, losgesagt und seinen Vater öffentlich geohrfeigt. Am Beginn erleben wir den jungen Rotgardisten auf einer dreitägigen Zugfahrt nach Peking – aufgrund von Platzmangel in der Gepäckablage über den Sitzen liegend. Irgendwann wird Nie Honghong, dem Erstickungstod nahe, zu ihm hoch gereicht: der Beginn einer kurzen, schicksalhaft endenden Romanze.
Denn das hübsche junge Mädchen stirbt in den Wirren der blutigen Kämpfe des kommunistischen Regimes mit Abweichlern. Zuvor erlebt sie an Zhuang Ziguis Seite auf dem Platz des Himmlischen Friedens den Auftritt Maos. Mit großer darstellerischer Kraft und nicht ohne Sarkasmus vergegenwärtigt Liao den Fanatismus und die ungeheure Dynamik ideologisch verführter Massen. Politik und Revolution greifen tief in Ziguis Leben ein. Und sie sind allgegenwärtig. Die über Radio und Hochtonlautsprecher, auf Flugblättern und Wandzeitungen ausgegebenen ständig geänderten Direktiven und Parolen lassen angesichts der Wechselfälle und des Chaos der Revolution ein sicheres und ruhiges Leben nicht zu.
Zum sicheren Hafen?
Zhuang Zigui wird inhaftiert –und später, im Rahmen der Umerziehung der gebildeten Jugend, aufs Land verschickt. Fast das Einzige, was das Leben dort halbwegs lebenswert macht, sind Liebschaften. Auf ein kurzes Intermezzo in seiner Heimat folgt seine Flucht nach Tibet, wo er sich in Zhuoma verliebt. Dass sie ein Buch des Dalai Lama liest, grenzt schon an Landesverrat. Heimweh treibt Zhuang schließlich zurück. Auf der Zugfahrt, mit der der Roman endet, begegnet er Yang Dong wieder. Wird er in ihr seinen ruhigen Hafen finden? Wir erfahren nur, dass Zhuang später Astronom und anerkannter Dichter wurde.
Der drastische, mit Flüchen und Zoten, Witzen und blumigen Liedversen gespickte Realismus des vorzüglich übersetzten Romans bietet dem Leser facettenreiche Einblicke in eine folgenreiche Periode der jüngeren chinesischen Geschichte, die auch in Anmerkungen erläutert wird. Am Schluss, als Quintessenz seines bisherigen Lebens, erkennt der Held: „Was so Leben heißt, ist eine endlose Schimäre.“
Liao Yiwu Die Liebe in Zeiten Mao Zedongs S. Fischer Verlag 448 ...
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