Seit zehn Jahren, „als die Götter es für angebracht hielten, ihm seine Frau zu entreißen“, führt Baumgartner das Leben eines Zombies, dessen Körper weiter auf Erden wandeln muss, obwohl in ihm längst alles abgestorben ist: „Er ist ein menschlicher Stumpf, ein halber Mann, der die Hälfte seiner selbst, die ihn zum Ganzen machte, verloren hat.“ Seit die unberechenbare Anna, die sich von niemandem belehren oder bevormunden ließ, bei einem Badeunfall zu Tode kam, verliert sich der in Princeton lehrende Professor, der Bücher über philosophische und ästhetische Themen und über „die unergründlichen ontologischen Sümpfe der menschlichen Wahrnehmung“ verfasst hat, in Erinnerungen.
US-Schriftsteller Paul Auster
- Geboren wurde Paul Auster 1947 in Newark/New Jersey als Sohn jüdischer Eltern. Er studierte Anglistik und Vergleichende Literaturwissenschaft und verbrachte nach dem Studium einige Jahre in Frankreich.
- International bekannt wurde er mit „Im Land der letzten Dinge“ und der „New-York-Trilogie“. Sein Roman „4-3-2-1“ gilt als Opus Magnum der Autors, der auch als Drehbuchautor und Film-Regisseur („Smoke“, „Lulu on the Bridge“, „Das Innenleben des Martin Frost“) auf sich aufmerksam machte.
- In zweiter Ehe ist er verheiratet mit der Schriftstellerin Siri Hustvedt, ihre gemeinsame Tochter ist die Sängerin und Schauspielerin Sophie Auster. Daniel, Austers Sohn aus erster Ehe mit der Autorin und Übersetzerin Lydia Davis, wurde mehrfach wegen verschiedener Vergehen verhaftet und starb 2022 im Alter von 44 Jahren an einer Überdosis Drogen.
- Paul Auster: „Baumgartner“. Roman. Aus dem Englischen von Werner Schmitz. Rowohlt Verlag. 204 Seiten, 22 Euro.
Dann sieht er die junge Anna wieder, die gegen den Vietnam-Krieg protestiert und bei einem kleinen Verlag als Lektorin erste Erfolge feiert. Manchmal stöbert er nachts in Annas Arbeitszimmer und fördert ihre unveröffentlichten Gedichte und Erzählungen zutage. Oder er telefoniert in einem Wachtraum mit der Toten, die ihm erklärt, dass sie in einem „Großen Nirgendwo“ existiert und „gelegentlich in seinen Kopf schlüpfen und diese Gedanken hören kann und sehen, was er mit seinen Augen sieht.“
Fakten und Fiktionen
Doch bevor er verrückt wird, schafft Baumgartner den Absprung in die Realität. Schreibt, um dem „verzwickten Körper-Geist-Rätsel“ auf die Spur zu kommen, ein Buch über das „Phantomschmerz-Syndrom“ und eine „ernst-komische Abhandlung über das Ich im Verhältnis zu anderen Ichs mit dem Titel Rätsel des Steuers“, in dem er das Leben als ein „wildes, außer Kontrolle geratenes Gerangel“ von Autos sieht, „die über Straßen von Einsamkeit und drohenden Tod“ aufeinander zu rasen. Um den Tod hinauszuzögern, schmiedet der 72-jährige Pläne, freut sich auf den Besuch einer Studentin, die an einer Dissertation über das Werk von Anna arbeitet und aus Ann Arbor anreisen will, um in ihrem Nachlass zu wühlen.
Warum er sich an einem Wintertag in sein Auto setzt, über vereiste Straßen in eine verlassene Gegend und mitten hinein in etwas vollkommen Unerwartetes fährt, bleibt ein Geheimnis. Beruht vielleicht alles, das Leben, die Liebe, der Tod, nur auf einem Zufall?
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In „Baumgartner“, dem neuen Roman von Paul Auster, dreht sich alles um die Mythologie des Zufalls. Und wieder einmal dient eine fiktive Biografie dem Autor dazu, sich selbst als einen anderen zu sehen und neu zu erfinden. Doch während er zuletzt jeweils über 1000 Seiten brauchte, um in seinem Opus Magnum „4-3-2-1“ das literarische Verwirrspiel auf einen absurden Höhepunkt zu treiben oder um sich mit einem Buch über Genie und Wahn von Stephen Crane in dem seelenverwandten Autor selbst zu spiegeln, biegt Auster jetzt wieder auf die literarische Kurzstrecke ein.
Er tippt Themen nur an, die ihn umtreiben, macht aus dem Professor einen Spielball seiner literarischen Obsessionen und stopft ihn mit entfremdeten Momenten seiner eigenen Biografie aus. Wie sein literarisches Alter Ego kommt auch Auster aus Newark/New Jersey, hat an der Columbia University in New York studiert und in Princeton gelehrt. Beide konnten sich aus gesundheitliche Gründen vom Wehrdienst befreien lassen, mussten nicht nach Vietnam und konnten, statt in einem Sarg nach Hause zu kommen, eine intellektuelle Karriere einschlagen.
Dass Baumgartner sich als Philosoph mit Problemen beschäftigt, die auch Auster in seinen Romanen umkreist, liegt nahe. Seit Auster in jungen Jahren eine Zeit lang in Paris lebte, finden sich bei ihm überall Spuren der Theorien von Lacan, Foucault und Derrida, die dem amerikanischen Autor die Erkenntnis vermittelten, dass die Realität erst durch Sprache geformt wird und Fantasie sich in Wahrheit verwandeln kann. Wie durchlässig die Grenzen zwischen Fakten und Fiktionen sind, beweist Auster jetzt wieder.
Der Mädchenname von Baumgartners Mutter ist Ruth Auster, die Wurzeln der jüdischen Familie liegen in Galizien, einem Ort, der heute Iwano-Frankiwsk heißt und zur Ukraine gehört. Als Baumgartner alias Auster anlässlich einer PEN-Tagung in Lwiw einen Abstecher dorthin macht, erzählt ihm ein Dichter eine seltsame Geschichte: Nachdem die Nazi-Besatzer die Juden erschossen und vor den anrückenden Sowjet-Truppen geflohen waren, stromerten nur noch wilde Wölfe durch die menschenleere Stadt. Es dauerte Wochen, sie zu vertreiben und den Ort wieder bewohnbar zu machen. In keinem Archiv aber finden sich dafür Beweise.
„Mangels jeglicher Fakten, die die Geschichte als wahr oder falsch erweisen könnten, glaube ich dem Dichter. Und ob es sie damals dort gab oder nicht, ich glaube an die Wölfe“. Das schreibt Baumgartner in einer literarischen Skizze, die Auster in den Romanen einbettet. So wie er auch Gedichte und Erzählungen von Anna erfindet und herbeizitiert. Aber auch das ist ja nichts Neues bei dem Autor, der uns die Frage stellt: „Muss ein Ereignis wahr sein, um als wahr akzeptiert zu werden, oder macht schon der Glaube an die Wahrheit ein Ereignis wahr, selbst wenn das angeblich Geschehene gar nicht geschehen ist?“
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