Mannheim. Schon seit Monaten herrscht nervöse Stimmung in der von serbischen Nationalisten eingekesselten Stadt. An den Häuserwänden sind Graffiti gesprüht, die dazu auffordern, „Moslems in die Gaskammern“ zu treiben, „Serbien bis nach Tokio“ auszuweiten und Bosnien auszulöschen.
Der Belagerungsring um Sarajevo schließt sich. Doch die Eltern des kleinen Tijan glauben nicht, dass der Krieg unmittelbar bevorsteht.
Als die ersten Bomben fielen, lag ich bäuchlings auf dem Schlafzimmerteppich und hörte Radio - der Sender spielte David Bowies Suffragette City
„Menschen wollen keinen Krieg, Kleiner! Sie wollen Frieden“, versucht der Vater den verängstigen Jungen zu beruhigen. Leider liegt Tijans Vater, ein verträumter Bibliothekswissenschaftler, genauso falsch wie seine vergeistigte Mutter, die gerade an ihrer germanistischen Promotion schreibt.
„Als die ersten Bomben fielen, lag ich bäuchlings auf dem Schlafzimmerteppich und hörte Radio - der Sender spielte David Bowies Suffragette City, als plötzlich ein metallisches Kreischen die Luft zerriss und eine Explosion unsere Vorhänge aus der Schiene blies. Ihr Druck war so gewaltig, dass mir schwarz vor Augen wurde, als hätte ich mich zu lange kopfüber vom Turnreck hängen lassen.“
Die unbetrübte Kindheit wird zum grausamen Krieg
Als im April 1992 der Krieg nach Sarajevo kommt, ist Tijan Sila gerade einmal zehn Jahre alt. Eben hatte er noch eine unbeschwerte Kindheit, stromerte mit seinen Freunden durch die Plattenbau-Siedlung, vertrödelte seine Nachmittage auf dem Basketballplatz und hörte, wann und wo immer es ging, in seinem Kofferradio die Songs von David Bowie, Bon Jovi, AC/DC, Metallica, egal, Hauptsache, sie waren schön laut und ein bisschen schräg.
Der Autor Tijan Sila
- Tijan Sila (der Name ist ein Pseudonym), geboren 1981 in Sarajevo, kam 1994 als Kriegsflüchtling nach Deutschland. Er ging in Mannheim zu Schule, studierte Germanistik und Anglistik in Heidelberg.
- 2017 erschien sein erster Roman „Tierchen Unlimited“, 2018 folgte „Die Fahne der Wünsche“, 2021 „Krach“ und nun, 2023, sein autobiographisches Buch „Radio Sarajevo“, in dem er mit den Augen eines Kindes über die Erlebnisse in dem von der jugoslawischen Armee und bosnischen Serben belagerten Stadt berichtet und beschreibt, wie es ihm gelang, nach Deutschland zu fliehen.
- Tijan Sila veröffentlichte auch Essays in der „Zeit“, der „taz“ und dem „Freitag“. Der Autor lebt in Kaiserslautern und arbeitet dort als Lehrer an einer Berufsschule. (FD)
Doch von einem Moment zum anderen zerfällt die schöne Fassade, mutiert die kindliche Idylle zum grausamen Krieg, der den Alltag vollkommen umstülpt und den Tod zum täglichen Begleiter macht. Von Tag zu Tag wird sich der mörderische Irrsinn steigern, werden Straßen sich in Müllhalden verwandeln, machen Scharfschützen Jagd auf verzweifelte Menschen, die auf der Suche nach Nahrung durch die Stadt geistern und irgendwann nur noch eines wollen: der Hölle entkommen.
1994 aus dem Krieg nach Mannheim gekommen
Tijan Sila hat den Schrecken hautnah miterlebt, hat Menschen verbluten sehen und ist selbst von einer Kugel getroffen worden. Doch er hat das Chaos, das er gar nicht verstand, überlebt und ist mit seinen Eltern und seinem kleinen Bruder dieser Hölle entkommen.
Nach einer langen Odyssee durch Städte und Länder, die weder einen Schlafplatz noch einen sicheren Aufenthalt anboten, kam er 1994 in Deutschland an, konnte in Mannheim die Schule besuchen und in Heidelberg studieren. Heute lebt er in Kaiserslautern und arbeitet als Lehrer an einer Berufsschule. Tijan Sila ist nicht sein richtiger Name, sondern ein Pseudonym, das er sich zugelegt hat, um Bücher zu schreiben, in denen er auf sein Leben mit den Augen eines Fremden schauen kann.
Gewalt zerfrisst alles in Sarajevo
„Radio Sarajevo“ erzählt davon, wie dünn das Eis der Zivilisation ist, wie aus Nachbarn Feinde werden und der Kampf ums Überleben das einzige Ziel ist. Mit den Augen und den Worten eines Kindes gräbt der Autor in seinen Erinnerungen, holt Vergessenes und Verdrängtes wieder ans Tageslicht, berichtet mit (gespielter) Naivität davon, wie der kleine Tijan mit seinen Freunden in den Ruinen Sarajevos nach Dingen sucht, die man auf dem Schwarzmarkt verhökern kann, wie Gewalt alles zerfrisst, auch die Ehe der Eltern, die sich nur noch anblaffen und ihre Kinder grundlos verprügeln.
Das geliebte Radio hilft in schweren Zeiten
Wie der Schulhof zum Schlachtfeld der Gefühle wird und der Lärm der einschlagenden Granaten zur neuen Normalität. Wie Panik um sich greift und man das Weinen einstellt, wie die besten Freunde sich abkapseln und mit dem Schnüffeln von Klebstoff zudröhnen, wie die Nächte in den Kellern Panik verursachen und man alles daran setzt, neue Batterien für das geliebte Radio aufzutreiben, um sich mit den verrücktesten Pop-Songs aus der von schwarzem Rauch vernebelten und mit aufgedunsenen Leichen übersäten Wirklichkeit weg zu träumen: „Sarajevo kam mir vor wie ein schwarzer Wald, der Tod als ein Jäger, und ich fühlte zum ersten Mal das, was ich erst Jahre später, in Deutschland, in Worte zu fassen schaffe: Ich fühlte, dass zu leben vor allem bedeutete, Grauen auszuhalten.“
Ohne über die politischen und religiösen Hintergründe des Gemetzels ausweglos zu räsonieren, lässt Sila dieses Grauen wieder aufleben und versucht zu verstehen, warum der Krieg niemals aufhört, sich in die zerstörten Seelen der Überlebenden einnistet, für Streitlust und Gewaltausbrüche sorgt. Immer wieder wird er - als Schüler und auch heute noch als Lehrer - zur Schulleitung vorgeladen, weil er sich im Tonfall vergriffen hat. „Wer weiß schon, woran das liegt? Vermutlich am Krieg, wie irgendwie fast alles in meinem Leben.“ Es ist ein berührendes und bewegendes Buch, das wir alle lesen sollten, gerade in den Zeiten der Kriege, die niemals wirklich enden.
Tijan Sila: „Radio Sarajevo.“ Hanser Berlin. 176 S., 22 Euro
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