Literatur

Marion Poschmanns Buch „Chor der Erinnyen"

In ihrem neuen Buch „Chor der Erinnyen“ umkreist Marion Poschmann anspielungsreich und originell, humorvoll und poetisch die alten Fragen: Wie real ist die Wirklichkeit? Ist das Leben vielleicht nur ein Traum?

Von 
Frank Dietschreit
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Autorin Marion Poschmann bei der Einführung ins Amt der Stadtschreiberin von Bergen-Enkheim. © Boris Roessler/dpa

Weil sie ihrer kreativen Unruhe misstraut und ihren Hang zum Übersinnlichen fürchtet, hat sich Mathilda in einen Käfig scheinbarer Normalität eingebunkert, ist Stu-dienrätin für Mathematik und Musik geworden, gilt als nüchtern und distanziert. Doch plötzlich bröckelt die bürgerliche Fassade. Bei einem Streit wegen irgendeiner Kleinigkeit bekommt ihr Ehemann einen Wutanfall, verlässt das Haus und bleibt tagelang wie vom Erdboden verschluckt.

Eine schon immer etwas seltsame Freundin aus Kindertagen taucht unangemeldet bei ihr auf und erinnert sie an alte Schuldgefühle. Ein Wander-Wochenende endet, als der Wald plötzlich in Flammen steht und das Feuer außer Kontrolle gerät, in einem fürchterlichen Chaos.

Und ihre Mutter, sonst ein unerschütterliches Denkmal eines ereignislosen spießigen Daseins, zeigt ihr Zweites Gesicht, eröffnet ihrer verdatterten Tochter, dass sie die Fähigkeit hat, mit Verstorbenen zu sprechen und Ereignisse vorauszusehen. „Bei mir ist es milder“, notiert Mathilda mit zittriger Hand in ihr Tagebuch, „mir erscheinen lebende Personen. Sie flackern kurz auf, und ich weiß alles über sie. Oft geschieht es im Schlaf, wenn ein Traum seinem Ende zugeht und etwas enthüllt, was wahrer ist als der Rest und dessen Klarheit mich erschüttert zurücklässt.“

Fremd und doch vertraut

Träume und Visionen werden Wirklichkeit, Unbekanntes und Dunkles aus ihrem tiefsten Inneren melden sich zu Wort, Mathilda hört Flüstern und Wispern, Stimmen, die ihr fremd sind und doch ganz vertraut erscheinen. Hört sie vielleicht den „Chor der Erinnyen“?

Hatte Marion Poschmann in ihrem Roman „Die Kieferninseln“ einen von Alpträumen und Angstzuständen geplagten Privatdozenten hinaus in die Welt flüchten lassen, um sich im fernen Japan von den bösen Geistern seines bürgerlichen Ehe-Gefängnisses und seiner beruflichen Sackgasse zu befreien, so lässt die Autorin diesmal den „Chor der Erinnyen“ wieder auferstehen und begleitet eine vom Leben enttäuschte Frau auf ihrer Reise in die von Konvention und Normen befreiten Zonen der wahren Empfindungen.

Wieder umkreist Poschmann anspielungsreich und originell, humorvoll und poetisch die alten Fragen: Wie real ist die Wirklichkeit? Gibt es etwas außerhalb unserer Wahrnehmung? Ist das Leben vielleicht nur ein Traum?

Mit ironisch verfremdetem magischem Realismus wirft eine allwissende Erzählerin hintergründige Schlaglichter auf das aus den Fugen geratene Leben von Mathilda, erzählt mit Lust an grotesken Details und bizarren Einfällen vom absurden Leben einer völlig verkorksten Frau, die endlich den Mut hat, sich ihren inneren Dämonen zu stellen und sich mühevoll aus ihrem Puppenheim zu befreien.

Auszüge aus dem Tagebuch

Ab und an tröpfelt die Erzählerin – kursiv gedruckt – ein paar Notizen und Gedichte aus Mathildas Tagebuch in den von abrupten Schnitten unterbrochenen Textfluss, verwischt Zeiten und Räume, Erinnerungen und Erfahrungen, Gestern und Heute. Manchmal beflügeln sich die Erzählerinnen, manchmal überlappen sich die Stimmen, wiederholen das Gedachte und Gesagte: „Sie ging immer schneller durch den heillosen Wind. Ich ging immer schneller durch den heillosen Wind.“

Oder Mathilda fällt in einen tiefen Schlaf und (alp-)träumt von sich als einer anderen: „Wir sehen sie nicht in dieser Welt Fuß fassen. Sie sitzt auf dem Sofa, berührt nicht den Boden, der Boden verschwimmt ihr, als könnten nur Wasservögel sicher dort landen. Sie bekommt keinen Fuß auf den Boden, die Welt ist ihr Abgrund, nicht Halt, aber was lässt sich tun, außer trotzdem gut auszusehen und niemals zu zeigen, dass sie zu viel weiß.“

Kontakt zu dämonischer Urkraft

Wie es sich lebt, wenn man zu viel weiß über die Schönheit des Schreckens, Kontakt hat zu Urkraft dämonisierter Frauen und verbunden ist mit den schrillen Stimmen aus einer Zeit, als noch der „Chor der Erinnyen“ den Klang der Furien erzeugte und das Mutterrecht gegen die Herrschaft des Patriarchats verteidigte, davon erzählt Marion Poschmann mit fantasievollem Überschwang. Wie von magischer Hand gezogen, folgen wir gern „Mathilda auf freiem Feld, in einem vagen äußeren Wind, der nach und nach anschwoll, äußerster Traum. Sie bewegte sich in einer dunklen Wolke. Schritt in der dunklen Wolke dahin. Sturmtief Mathilda.“

Freier Autor

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