Literatur

Fatou Diome fasst arikanische Lebenshärte in poetische Sprache

In ihrem Roman „Der Bauch des Ozeans“ schreibt die Schriftstellerin Fatou Diome über Migration auf den senegalesischen Inseln Niodior und Djifere. Ein Ortsbesuch und die Begegnung mit Menschen, die den Weg nach Europa suchten

Von 
Manfred Loimeier
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Ein Schiffsbauer auf der Insel Djifere vor der Küste Senegals repariert eine Piroge, das übliche Fischer- und Transportboot vor Ort. © Manfred Loimeier

Die Piroge legte an. Schweigend trugen zwei Fischer die Ladung an Land. Auf dem Pier lag ein Mann mit triumphierend hochgereckten Armen. Von weitem sah er wie ein ruhender Schwimmer aus. Nur die halbgeöffneten Kleider verrieten, dass er nicht freiwillig so dalag. Unweit des Dorfs, wo die Insel Niodior ihre Zunge ins Meer taucht, war Moussas lebloser Körper den Fischern ins Netz gegangen. Der Atlantik kann nicht alles verdauen, was die Erde ausspuckt.“

Die Sippe vergisst oft ihre Pflichten,aber nie ihre Rechte.
„Der Bauch des Ozeans“

Die in Straßburg lebende senegalesische Schriftstellerin Fatou Diome (unteres Bild) ist selbst auf Niodior aufgewachsen, der westlichsten Insel im Mündungsgebiet des Sine-Saloum. In ihrem Debütroman von 2003, „Der Bauch des Ozeans“, schildert sie, wie die nach Frankreich ausgewanderte Salie ihrem kleinen Bruder Madické davon abrät, nach Europa zu kommen und lieber einen kleinen Laden auf Niodior zu führen. Europa ist kein Paradies, und die Rückkehr von Immigranten, die es nicht zu Reichtum und Überfluss brachten, eine unehrenhafte Schande - und damit unmöglich.

© Manfred Loimeier

„Die Sippe vergisst oft ihre Pflichten, aber nie ihre Rechte“, beschreibt das Diome in „Der Bauch des Ozeans“, „,Erfolg ist meine einzige Chance, den Zweck zu erfüllen, den bei uns jedes Kind hat: soziale Sicherheit für die Familie. Diese Unterhaltspflicht ist für alle, die im Ausland leben, die schwerste Bürde. Doch da nichts über die Liebe und Anerkennung derer geht, die wir verlassen haben, wird jede ihrer Launen uns zum Befehl.“

Auch Sana Sarr hat es versucht. 2006, damals war er 35 Jahre alt, setzte er sich in eine Piroge und kam bis nach Spanien. Dort fiel er nach sechs Wochen allerdings der Polizei in die Hände und wurde zurück nach Djifere abgeschoben, seiner Heimatinsel unweit von Niodior. Was er in Spanien wollte? „Na, ein besseres Leben, eine bessere Zukunft!“, antwortet Sana Sarr verdutzt.

Jeder hat es versucht, manche kommen durch, manche nicht
Bouya Sarr

Auch die Brüder Bouya Sarr und Saliou Sarr haben es versucht - sie wurden von der Insel mit einem Auto an einen anderen Küstenort gebracht und fuhren 45 Tage mit dem Boot nach Teneriffa. Dort kamen sie in ein Auffanglager und wurden via Fuerteventura wieder abgeschoben. „Jeder von hier hat es schon mal versucht“, sagt Bouya Sarr, „manche kommen durch, manche nicht.“ Auch Moussa Sarr ist so einer - er ist mit seinem Boot aber vor der Küste Marokkos wieder umgedreht - viel Gegenwind und kaum noch Benzin im Tank.

Pirogen bieten viel Platz

Steht man am Ufer von Djifere oder schaut von Niodior hinaus aufs Meer, dann kommt das abstrakte Wort Immigration plötzlich ganz nah. „Dort, auf der Insel Niodior, gibt es Menschen, die seit Jahrhunderten an ihrem Stückchen Land hängen wie Krümel im Maul des Ozeans. Sie warten ergeben, ob die nächste Welle sie verschlingt oder verschont. Ein heftiger Wirbelsturm verdreht den Kokospalmen die Äste. Der weiße Sand, der sonst der ganze Stolz der Insel ist, wird den Menschen zum Feind, er peitscht ihre Haut und reißt alles mit, was ihm in den Weg kommt.“

Sie sind aus dem Boot gefallen, vielleicht vor Hunger oder Angst
Bouya Sarr

Aber Pirogen sind groß und bieten viel Platz, und der Weg an der Küste Westafrikas entlang Richtung Norden ist vor Ort so naheliegend wie hierzulande eine Zugfahrt von Mannheim nach Berlin. Aber wie funktioniert das, setzt man sich einfach in ein Boot und bricht auf?

Schriftstellerin Diome hat auch das thematisiert. In ihrem noch nicht ins Deutsche übersetzten Roman „Celles qui attendent“ (Die, die warten) von 2010 - ihren Großeltern Aminata und Saliou Sarr gewidmet, bei denen sie aufwuchs - beschreibt sie, wie Mütter, Ehefrauen und Schwestern auf Lebenszeichen ihrer Väter, Brüder und Söhne warten, die den Weg nach Norden gegangen sind.

© Manfred Loimeier

Vor allem aber schildert sie, wie das Schleppergewerbe arbeitet, wie „Agenten“ ins Dorf kommen, junge Männer ansprechen, sie wieder und wieder kontaktieren und Fahrten organisieren. Wie Verwandte und Dorfbewohner Geldsummen leihen, wie Taxis die Männer zu Bussen bringen, die zu den Küstenorten fahren, wo die Boote warten. Ein gut organisiertes System. Und wie die Männer es kaum wagen, erfolglos zurückzukehren, weil sie die Schulden bei den Verwandten und Dorfbewohnern nicht begleichen können.

„Man bekommt einen Anruf“, sagt auch Sana Sarr, „oder jemand kommt vorbei. Das geht über soziale Netzwerke, sofern man Internet hat, und plötzlich ist da eine Anfrage . . .“. Oder jemand auf der Insel Djifere, der es schon mal versucht hat, gibt die Kontakte weiter. Weiß er denn auch von Menschen, die bei der Überfahrt gestorben sind? Ja sicher, sagt Sana. „Vier Leute sind auf unserem Boot gestorben“, sagen Bouya und Saliou Sarr, „sie sind aus dem Boot gefallen, vielleicht vor Hunger oder auch Angst.“

Sauberes Wasser und Strom, es gibt zu essen und zu trinken
Sana, Bouya und Saliou Sarr

„Neidisch sahen sie die Sonne das Meer liebkosen, das sie oft tagelang vergeblich umwarben. Sie hatten nichts als ihre nackte, braune Haut zu bieten, und wenn das Meer sich ihnen endlich hingab im himmelblauen Hochzeitskleid, verbarg sich unter der Schleppe ein Massengrab“, heißt es in „Der Bauch des Ozeans“, und die poetischen Worte erhalten plötzlich eine brutale Bedeutung.

Und was halten die Frauen dieses Ortes auf Djifere davon? Die Frauen, sagt Mbenda Sarr von der örtlichen Fischerinnenvereinigung, finden es nicht gut, dass die Männer weggehen wollen, haben aber Verständnis dafür.

Die Gespräche der Frauen

Fatou Diome © Frank May

Auch den Alltag der Frauen hat Diome in ihrem Roman gestaltet: „Ihr Reich ist die Küche. Ihre Gespräche drehen sich um die Ernte, die magere Ausbeute beim Fischfang, um die Meeresfrüchte, die hier kaum mehr zu bekommen sind, um Verlobungen, Taufen, modische Stoffe und die neuesten Schnitte. Gaumenfreuden sind ihr oberstes Gebot. Unter ihren kundigen Händen, die von den Palmen nehmen, was diese der Erde und Sonne abtrotzen, werden sogar Reiskörner zu Rubinen. Dennoch entgehen ihnen die halblauten Gespräche der Männer im Hinterhof nicht. Ein Hauch von Sehnsucht trägt ihnen die Stimmen zu und stiehlt sich unter ihr Gewand.“

Würden Sie es nochmals versuchen, den Weg nach Europa? Im Grunde ja, antworten sie alle, Sana, Bouya und Saliou Sarr. Selbst die Wochen im Auffanglager seien angenehmer als das Leben hier auf der Insel Djifere, ohne Arbeit und Perspektive. Dort hat man ein ordentliches Dach überm Kopf, es gibt sauberes Wasser und Strom, man kann sich waschen, und es gibt zu essen und zu trinken, sind sie sich einig.

„Kein Netz kann die Algen davon abhalten, den Ozean zu durchqueren und den Geschmack des Wassers anzunehmen, in dem sie treiben“, schließt der Roman „Der Bauch des Ozeans“. Und Literatur füllt sich mit Leben, und es zeigt sich dennoch der Unterschied zwischen Fantasie und dem Alltag unmittelbar vor Augen hier auf den Inseln Djifere und Niodior vor der Küste Senegals.

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