Kino

"Orphea in Love": Orpheus und Euridyke zwischen Staatsoper und Callcenter

Axel Ranisch überträgt in seinem aktuellen Musikfilm "Orphea in Love" die Sage von Orpheus und Eurydike in die heutige Zeit und siedelt sie zwischen Staatsoper, Callcenter und Hölle an

Von 
Gebhard Hölzl
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Axel Ranisch hat mit „Orphea in Love“ seine Leidenschaften zum Film und zur Oper in Verbindung gebracht. © EPD

Kriminalfilme, seichte, gern derbe Komödien, Beziehungsdramen und historische Stoffe prägen das heimische TV- und Kinoprogramm. Von einigen Ausnahmen abgesehen routinierte, gepflegte Konvention. Was fehlt, sind die radikalen, spannenden Ansätze, die einst die Werke von Rainer Werner Fassbinder und Werner Herzog (mit) ausmachten.

Zum Glück gibt es Axel Ranisch, 1983 in Ost-Berlin geboren, Autor, Schauspieler, Produzent und Regisseur. Für seine eigenwilligen Ansätze ist er bekannt, als (ewiger) Shootingstar der Independent-Szene und Erfinder des deutschen Mumblecore wird er gefeiert. Beispiele sind die Tragikomödie „Dicke Mädchen“, die beiden gegen den Strich gebürsteten Lena-Odenthal-„Tatorte“ oder die Dokumentation „Rosakinder“, in der er mit Julia von Heinz, Chris Kraus, Tom Tykwer und Robert Thalheim seinem Mentor Rosa von Praunheim Tribut zollt.

Klassik als zweite Leidenschaft

Seine zweite große Leidenschaft ist die klassische Musik. Seit 2013 inszeniert er regelmäßig Opern in Berlin, Lyon und der Isarmetropole. So ist sein aktueller Musikfilm „Orphea in Love“ von geradezu zwingender Logik. Auf der Sage von Orpheus und Eurydike fußt das vom Filmemacher verfasste Drehbuch. Mit ihm zielt Ranisch auf Bauch und Ohren.

Euridike wird bei ihm zum Mann, Orpheus zur Frau. Nele (Mirjam Mesak) heißt sie hier. Aus einem kleinen Dorf in Estland stammt die verträumte junge Frau, die in einer feierwütigen Mädels-WG wohnt und ihren Eltern am Telefon erzählt, dass sie studiert, während sie in Wahrheit in einem Callcenter und als Garderobiere an der Münchner Staatsoper jobbt. In der Welt der Musik findet sie Zuflucht, geplagt von blutigen Tagträumen, die sie regelmäßig heimsuchen. Im kleinkriminellen Streetdancer Kolya (Guido Badalamenti), der ihr das Portemonnaie entwendet, findet sie eines Tages zufällig einen Seelenverwandten.

Christina Große

  • Christina Große ist seit Mitte der 1990er-Jahre auf dem Bildschirm zu sehen, wirkte in Krimiserien wie „SOKO Wismar“ oder „Bella Block“, dem Psychodrama „Spur der Hoffnung“, dem Mehrteiler „Weissensee“ oder der Komödie „Partnertausch“ mit.
  • Große, 1970 in Blankenhain geboren, absolvierte von 1990 bis 1994 ein Schauspielstudium an der Filmhochschule „Konrad Wolf. Zu der Zeit stand sie bereits am Deutschen Theater in Berlin auf der Bühne.
  • Im Kino ist sie weniger präsent, absolvierte jedoch einige überzeugende Auftritte.

Hals über Kopf verfällt sie ihm, in einer wunderbaren Symbiose aus Gesang und Bewegung nähern sich die beiden einander an. Misstrauisch beäugt von Kolyas strenger Ziehmutter (Ursula Werner), die ihr Mündel zum Stehlen anstiftet und so ihren Lebensunterhalt bestreitet. Doch Neles dunkle Vergangenheit steht der aufkeimenden Liebe im Weg.

Helfen könnte Talentmanager Höllbach (Heiko Pinkowski) - wie der Name bereits verrät dämonischer Herrscher der Unterwelt des Kulturbetriebs, der mit der Starsopranistin Adela (Ursula Lardi) liiert ist. Als deren Stimme versagt, braucht er Ersatz, wird auf Neles Talent aufmerksam. Einen faustischen Pakt schlägt er ihr vor, als Kolya bei einem Autounfall stirbt.

Kolportage lässt dieser Plot vermuten. Und das wird nicht verleugnet. Dafür ist die Umsetzung mitreißend. Einem wohligen Rausch, einem Trip, gleicht die Arbeit. Mal Himmel, mal Hölle. Im Callcenter wird unvermittelt losgeschmettert, selbst die fiese Chefin, verkörpert von Christina Große, von Ransich bereits in „Alki Alki“ und „Ich fühl´ mich Disko“ besetzt, ist angetan. Nonstop und überall wird getanzt - unter dem Münchner Friedensengel, in Graffiti-verzierten Unterführungen, an der Ostsee-Steilküste. Assoziativ ist die Montage, Traum und Realität verschmelzen. Einen stringenten Erzählstrang gibt es nicht. Man muss sich fallen und forttragen lassen, von der Musik, von Claudio Monteverdis „Toccata“, Giacomo Puccinis „Bevo al tuo fresco sorriso“, John C. Adams’ „Short Ride in a Fast Machine“ oder der witzigen Variante des Gospel-Evergreens „When the Saints Go Marching In“.

Farbstarke Kompositionen

Betörend sind die farbstarken Kompositionen von Ranischs Stamm-Kameramann Dennis Pauls. Geräuschen - etwa dem Summen einer Fliege - kommt Bedeutung zu. Spaß und (ein wenig) Ernst halten sich die Waage, derweil das Ensemble lustvoll aufspielt. Herrlich chargiert Pinkowski („Reuber“), die Augen hinter der Elvis-Presley-Brille versteckt. Charakterdarstellerin Werner („Der Junge muss an die frische Luft“) genießt sichtlich ihren Part als böse Mama, die sich zwischendurch zur Entspannung ein Schäferstündchen mit einem (über-)gewichtigen Senior gönnt.

Zwischen Haupt- und Nebenrollen wird nicht unterschieden. Jede/r hat seinen großen Moment. Wobei natürlich die Opern- und Konzertsängerin Mesak, engagiert an der Bayerischen Staatsoper, und Badalamenti, der der Ballettkompanie des Gärtnerplatztheaters München angehört, im Fokus stehen. Poesie pur. Happy End inklusive.

Freier Autor Gebhard Hölzl, Print-/TV-Journalist, Autor und Filmemacher.

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