Ein iranischer Serienkiller-Thriller: eigentlich undenkbar. Dennoch gibt es ihn. Realisiert als europäische Koproduktion - die Gelder stammen aus Dänemark, Deutschland, Frankreich und Schweden -, inszeniert vom 1981 in Teheran geborenen Ali Abassi („Border“), der inzwischen in Dänemark lebt und arbeitet, gedreht in der jordanischen Metropole Amman.
In den Straßen Maschhads
Schauplatz der Handlung von „Holy Spider“ ist Maschhad, mit rund dreieinhalb Millionen Einwohnern die zweitgrößte Stadt des Landes. Jährlich zählt man mehr als 20 Millionen Touristen und Pilger. Hier, in einer der sieben heiligen Stätten des schiitischen Islams, befindet sich in der größten Moschee der Welt der Schrein des legendären achten Imams Reza, Märtyrer und Nachfahre des Propheten Mohammed.
Mit einem klug gewählten Zitat aus einer der Predigten des Imam Ali, er Vetter und Schwiegersohn Mohammeds - „Jeder Mann soll kennenlernen, was er am liebsten vermeiden will“ - setzt die Handlung ein. Dann ist eine junge Frau zu sehen, die sich mit nacktem, von Schwielen und blauen Flecken übersäten Oberkörper - sichtbare Zeichen von Misshandlung - vor einem Spiegel schminkt. Liebevoll verabschiedet sie sich von ihrer kleinen Tochter. Macht sie sich anschließend auf den Weg zur Arbeit auf dem nächtlichen Straßenstrich.
Die iranische Schauspielerin Zar Amir Ebrahimi
- Die iranische Schauspielerin Zar Amir Ebrahimi wurde 1981 in Teheran geboren.
- Die zwei Spielfilme, die sie in Iran drehte - „Entezar“ (2001) und „Safar bi Hidaloo“ (2006) -, wurden von der Zensurbehörde verboten und kamen nie ins Kino.
- 2006 tauchte ein Sex-Video auf, das angeblich sie und ihren Freund zeigte - was die Schauspielerin vehement bestritt. Aus Angst vor Repressalien und einem unfairen Prozess - sie wurde in Abwesenheit zu 99 Peitschenhieben verurteilt und mit einem zehnjährigen Berufsverbot belegt - emigrierte sie nach Paris, wo ihr 2016 mit dem Drama „Bride Price vs. Democracy“ der Wiedereinstig ins Filmgeschäft gelang.
- Für ihre Rolle in „Holy Spider“ wurde sie für den Europäischen Filmpreis nominiert und in Cannes als beste Darstellerin ausgezeichnet.
Gewalttätig fällt der erste Freier über sie her, der zweite zahlt nur einen Bruchteil der verabredeten Summe, der dritte erwürgt sie, wickelt sie in einen Schal und entledigt sich ihrer Leiche in einem Gebüsch in der Peripherie. Die Prostituierte ist das neunte Opfer des sogenannten „Spinnenmörders“. Er ist Tagesgespräch, ein Phantom, das für Angst, Schrecken und Schlagzeilen sorgt. Sogar in der Hauptstadt, von wo die Journalistin Rahimi (Zar Amir Ebrahimi) anreist, um über den Fall zu berichten.
Unterstützt wird sie vom örtlichen Kriminalreporter Sharifi (Arash Ashtiani), der vom Verbrecher regelmäßig Anrufe erhält. Zuletzt hat dieser sich beschwert, als Mörder bezeichnet zu werden. Er selbst verstehe sich als Soldat im Krieg gegen das Laster, führe einem Feldzug gegen Freudenmädchen und drogenabhängige Frauen, die die Straßen Maschhads „verschmutzen“.
Saeed Azimi (Mehdi Bajestani), so heißt der Killer, hat im Krieg gegen den Irak in der Armee gedient. Nachts suchen ihn die blutigen Gefechte in seinen Träumen heim. Als zuverlässiger, freundlicher Bauunternehmer ist er bei Kollegen und Kunden geschätzt, seiner Frau treu ergeben, ihren drei gemeinsamen Kindern ein liebevoller Vater.
Tief verwurzelter Hass auf Frauen
Den Gesetzen der Gattung folgend entwickelt der Regisseur seine Geschichte, die auf dem wahren Fall des Serienmörders Saeed Hanaei beruht, der in den Jahren 2000 und 2001 insgesamt 16 Dirnen umbrachte, ehe er gestellt und hingerichtet wurde. Ein vermeintlich klarer Fall mit einem Todesurteil als Konsequenz. Womit jedoch niemand gerechnet hatte, war der Umstand, dass breite Teile der muslimischen Öffentlichkeit und die konservativen Medien sich auf Hanaeis Seite schlugen, ihn als Helden feierten. Sie fanden, dass er seine religiöse Pflicht erfüllt hat, indem er die „schmutzigen“ Frauen beseitigte.
Dieser Aspekt war es, der Abassi bewog, den Film zu machen. Keine klassische Mördermär, sondern ein Werk über eine „Serienmördergesellschaft“. Es geht um den in der iranischen Bevölkerung tief verwurzelten Hass auf Frauen, der nicht geistlich oder politisch motiviert ist, sondern einen kulturellen Ursprung hat. Dabei ist Saeed gleichzeitig Opfer und Täter: ein gebrochener Mann, der für seine Heimat gekämpft hat und feststellen muss, dass man ihm seine Dienste nicht dankt.
Misogynie als Staatsräson
Gespiegelt wird er in der Figur der Rahimi. Eine moderne taffe Heldin ist sie - bis hin zu dem Punkt, dass sie sich Saeed final als Lockvogel anbietet. Sie wird von den Männern, Klerikern wie Beamten, schikaniert. Das geht schon damit los, dass man ihr als alleine reisender Frau ein Hotelzimmer verweigert. Was sie schließlich doch bekommt, weil sie weiß, wie man das patriarchalische System überlistet. Misogynie ist im Iran bekanntlich Staatsräson.
Eine in allen technischen Belangen - besonders zu erwähnen ist die schleichende, nervöse Kameraführung von Nadim Carlsen („Schnelles Geld“) - makellos umgesetzte Produktion, getragen von den beiden glaubhaft agierenden Hauptdarstellern, die sowohl als spannende, an den Nerven zerrende Genrearbeit als auch erschütterndes, realitätsnahes Gesellschaftsporträt funktioniert. Ganz zu Recht hat es das anspruchsvolle Projekt in der Kategorie „Bester Internationaler Film“ auf die Oscar-Shortlist geschafft.
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