Kino

Film der Woche: Scham, Sex, Sinnlichkeit - ein Kammerspiel im Hotelzimmer

Emma Thompson betrachtet sich nackt im Spiegel - in „Meine Stunden mit Leo" wirft die Regisseurin Sophie Hyde einen Blick auf die weibliche Lust, wird dabei aber nie voyeuristisch.

Von 
Gebhard Hölzl
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Emma Thompson spielt Nancy Stokes, eine pensionierte Lehrerin, die noch nie einen Orgasmus hatte. Hilfe sucht sie bei Leo Grande (Daryl McCormack). © Wild Bunch Germany/dpa

Mannheim. „We Want Sex“ - das fordern in Nigel Coles auf wahren Begebenheiten beruhender „Lysistrata“-Variante die Arbeiterinnen eines britischen Ford-Werks im Jahr 1968 und treten ob der sexuellen Diskriminierung an ihrem Arbeitsplatz in den Streik. Um „Sex Education“ geht es in der von Laurie Nunn entwickelten, hoch erfolgreichen Netflix-Serie, in der ein Teenager gemeinsam mit einer Klassenkameradin seinen Mitschülern Nachhilfeunterricht in Sachen Erotik erteilt, während in Mike Nichols’ Kinomeilenstein „Die Reifeprüfung“ Dustin Hoffman als naiver College-Absolvent den Reizen einer älteren Vorstadt-Ehefrau - der von Anne Bancroft gespielten, von Simon & Garfunkel besungenen „Mrs. Robinson“ - verfällt.

Das sind nur drei Beispiele aus der Sparte „erotischer Film“. Die Aufzählung ließe sich endlos fortsetzen. Dabei lässt sich der erotische Film keinem Genre mit festen Regeln und wiederkehrenden Stereotypen zurechnen. Er bedient sich unterschiedlichster Erzählformen, ist mal Thriller wie bei „Basic Instinct“, mal überdrehte Komödie wie bei „Leoparden küßt man nicht“, mal Melodrama wie bei „Was der Himmel erlaubt“. Seine Ausdrucksweisen reichen von offenem Erotizismus bis hin zu hintergründiger Symbolik.

Emma Thompson

  • Die 1959 geborene Londonerin Emma Thompson besticht in starken Frauenrollen. Für ihre Margaret in „Wiedersehen in Howards End“ gewann sie 1993 den Oscar als beste Hauptdarstellerin.
  • Ihre Liebe zu Literatur und Sprache zeigt sich in den Romanverfilmungen, bei denen sie mitwirkte - darunter etwa „Was vom Tage übrig blieb“ -, und auch in ihrer Arbeit als Drehbuchautorin.
  • 1995 adaptierte sie - prämiert mit einem zweiten Academy Award - Jane Austens „Sinn und Sinnlichkeit“

Der Autor, Film- und Kulturkritiker Georg Seeßlen behauptet gar, dass jeder Film ein erotischer Film sei: „Denn jede menschliche Beziehung, jedes Bild, jedes Zeichen ist letztlich erotisch motiviert. Und Filme können gar nicht anders sein, sie handeln von Beziehungen, die Menschen untereinander haben.“

Was entsprechend auf „Meine Stunden mit Leo“ zutrifft, der bei der Uraufführung am Sundance Film Festival ebenso gefeiert wurde wie bei der heimischen Premiere auf der diesjährigen Berlinale. „Good Luck To You, Leo Grande“ heißt das Werk im Original trefflich - einmal mehr muss gefragt werden, warum der deutsche Verleih den Titel nicht einfach sinngemäß übersetzt hat.

Schamgefühl überwinden

Von Beruf ist der empathische Leo (Daryl McCormack) Callboy, zieht es jedoch vor, „Sextherapeut“ genannt zu werden. Seine Dienste nimmt Nancy Stokes (Emma Thompson) in Anspruch. Die gut 60-jährige Religionslehrerin befindet sich inzwischen im Ruhestand. Noch nie hatte sie einen Orgasmus, von befriedigendem Beischlaf ganz zu schweigen. Ihre Ehe bezeichnet sie als gut, aber langweilig. Der Gatte ist inzwischen verstorben. Er war der einzige Mann, mit dem sie je geschlafen hat. Nach ihrer Aussage hat er sich gelegentlich auf sie gewälzt, seinen Job schnell erledigt und ist dann postwendend eingeschlafen.

Nun will sie wissen, was es mit Sex auf sich hat. Wie er sich anfühlt, was er auslöst. Eine diesbezügliche Liste hat sie, ganz erfahrene Pädagogin, erstellt - mit allen Praktiken, die sie nachzuholen gedenkt. Soweit die Theorie. Die Praxis erweist sich als wesentlich schwieriger. Es gilt Tabus und Hemmschwellen zu überwinden. Also wird zunächst ausführlich gesprochen - wobei der Sexarbeiter sich als kluger, einfühlsamer „Mann für gewisse Stunden“ entpuppt.

„Meine Stunden mit Leo“ ist ein handwerklich sauber umgesetztes, aufs Sujet konzentriertes Kammerspiel, das fast ausschließlich in einem funktional ausgestatteten Hotelzimmer angesiedelt ist. Das Drehbuch hat die englische Komikerin Katy Brand verfasst, Regie führte die Australierin Sophie Hyde.

Nackt vor dem Spiegel

Die unterdrückte Sexualität der britischen Mittelklasse wird entlarvt und aufs Korn genommen. Das ist die eine Ebene. Die andere - spannender und tiefgründiger - kreist um die Entmythologisierung sexueller Bedürfnisse. Wie geht man mit dem eigenen Körper um, was darf man, was nicht? Wie artikuliert man seine Wünsche, wie schafft man es, Sex als etwas vollkommen Normales zu akzeptieren? Ein Aufklärungsfilm im Wortsinn, offen und dabei nie geschmacklos oder voyeuristisch. Die zunächst steife „Frau in den besten Jahren“ blüht zusehends auf und findet zu sich - manifestiert in einer großartigen Szene, in der Nancy sich nackt auszieht und erstmals in ihrem Leben in einem Spiegel genau mustert.

Ein Befreiungsschlag

Eine darstellerische Meisterleistung - laut der Aktrice „das Schwierigste, was ich je vor der Kamera tun musste“ - der gewohnt überragenden Thompson („Sinn und Sinnlichkeit“), die auf unterhaltsame und gleichzeitig berührende Weise vorführt, wie Nancys Panzer, geformt durch eine prüde und restriktive Erziehung, nach und nach Risse bekommt. Nicht zuletzt dank der Hilfe ihres souverän agierenden Partners McCormack („Peaky Blinders: Gangs of Birmingham“), der ihr als entspannter, selbstsicherer „Frauenversteher“ den Weg zum Recht auf die eigene Lust weist.

Dabei lernt auch er einiges über sich selbst - und findet zudem heraus, dass seine Kundin wie er zum Selbstschutz einen falschen Namen verwendet. Frau Stokes heißt eigentlich Robinson. Womit die Filmemacherin mit der Verkehrung des berühmten Rollenbildes in die Filmhistorie verweist. Clever - wie die Arbeit insgesamt.

Freier Autor Gebhard Hölzl, Print-/TV-Journalist, Autor und Filmemacher.

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