Kino

"Ein ganzes Leben" als moderner Heimatfilm

Mit „Ein ganzes Leben“ feierte der österreichische Schriftsteller Robert Seethaler 2014 einen Welterfolg. Jetzt kommt der Roman als Film in die Kinos. Warum sich das Anschauen unbedingt lohnt

Von 
Gebhard Hölzl
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Stefan Gorski als Andreas Egger und Julia Franz Richter als Marie in einer Szene des Films „Ein ganzes Leben“, der diese Woche in die deutschen Kinos kommt. © dpa

2014 erschien „Ein ganzes Leben“, der fünfte Roman des österreichischen Schriftstellers Robert Seethaler. Der schmale Band - 185 Seiten in der Taschenbuchausgabe - entpuppte sich als literarische Sensation. Allein im deutschsprachigen Raum wurde er mehr als 1,1 Millionen Mal verkauft, weltweit in 40 Sprachen übersetzt. Zudem stand er auf der Shortlist für den renommierten International Booker Prize. In den Rezensionen war zu Recht von einem „Jahrhundertroman“ und einem „kleinen literarischen Wunder“ die Rede.

„Parabel über das Wesentliche“

In seiner ihm eigenen schnörkellosen Sprache erzählt der Autor - mit kaum Dialog - die entbehrungsreiche Geschichte des Andreas Egger, der über acht Jahrzehnte Gewalt, Krieg und Armut erleidet, aber auch tiefste Erfüllung findet. Hans Steinbichler, der nach „Die zweite Frau“ - 2009 mit dem Grimme-Preis ausgezeichnet - erneut einen Stoff Seethalers adaptiert, sieht das Buch als „Parabel über das Wesentliche in unserem Leben - Liebe und Zufriedenheit - und hält damit unserer rastlosen Leistungsgesellschaft einen Spiegel vor“.

Steinbichler („Winterreise“), gerne und zu Recht als Erneuerer des Heimatfilms eingestuft, erweist sich als der richtige Mann für die Verfilmung. Er meidet in seinen Arbeiten - allen Genrekonventionen zum Trotz - Kitsch und Kolportage, Schwulst und Pathos, interessiert sich vielmehr für den Themenkreis Schuld und Vergebung. Die Natur dient ihm primär als Seelenlandschaft, seine Tragödien bzw. emotionalen Dramen verpackt er in betörend schönen Aufnahmen - frei nach dem Motto „Heimat ist da, wo es wehtut.“

Vielseitiger Stefan Gorski

  • Stefan Gorski wurde 1991 in Wien als Sohn polnischer Eltern geboren.
  • Seine Ausbildung absolvierte er am Max Reinhardt Seminar, bereits während des Studiums stand er auf der Bühne, etwa bei den Theaterfestspielen Reichenau.
  • Seit 2016 ist Gorski Ensemblemitglied des Düsseldorfer Schauspielhauses.
  • Inzwischen ist der multilinguale Mime – er spricht Deutsch, Polnisch, Englisch, Russisch und Italienisch - , der in Wien und Düsseldorf lebt, auch bei Film und Fernsehen gefragt.
  • Durch seine Rolle in Sönke Wortmanns Komödie „Contra“ ist der begeisterte Sportler dem deutschen Kinopublikum bestens bekannt.

Um das Jahr 1900 rumpelt ein Pferdewagen auf den Hof von Hubert Kranzstocker (Andreas Lust). Den Waisen Andreas Egger (Ivan Gustafik) liefert der Kutscher beim gottesfürchtigen, jähzornigen und gewalttätigen Großbauern ab, der ihn als billige Hilfskraft ausbeutet und regelmäßig verprügelt. Allein die alte Ahnl (Marianne Sägebrecht) bringt dem Buben etwas Fürsorge entgegen, lehrt ihn Lesen und Schreiben. Als sie stirbt, beschließt der inzwischen erwachsene Egger (Stefan Gorski) sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen.

Mit wilder Entschlossenheit, strotzend vor Kraft, schließt sich der wortkarge Einzelgänger einem Bautrupp an, der eine Seilbahn errichtet, die neben Elektrizität auch Geld ins Tal bringen soll. Jeden hart verdienten Groschen legt er zurück, bis er mit dem Ersparten vom Wirt (Robert Stadlober) eine schlichte Holzhütte hoch oben in den Bergen pachten kann. Dort schafft er sich und seiner empathischen Frau Marie (Julia Franz Richter), die er im Gasthaus kennenlernt, ein Zuhause. Doch ihre harmonische Ehe findet ein jähes Ende...

"Ein ganzes Leben" zeigt ein authentisches Bild des frühen 20. Jahrhunderts

Ein fiktionales Porträt, das Bild einer Epoche im Wandel. Ein authentisches Drama, eine realitätsnahe Nachzeichnung des frühen 20. Jahrhunderts, in dem die rurale Tradition langsam der Moderne weicht. Rau, hart und kalt ist der Alltag des aufrechten, stoischen Egger, nur kurz währt sein Glück. Aber er lässt sich nicht unterkriegen, orientiert sich immer wieder neu, selbst als er - im finalen Drittel von August Zirner („Die Fälscher“) verkörpert - aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft heimkehrt und staunend die Veränderungen wahrnimmt, die seine Heimat im Verlauf der Industrialisierung durchlaufen hat.

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Genau hat Drehbuchautor Ulrich Limmer („Schtonk!“) in enger Abstimmung mit Seethaler Geist und Tonalität der Vorlage eingefangen. Aus dramaturgischen Gründen lediglich mit der Struktur gebrochen und einen Kniff ersonnen, der Egger jederzeit erlaubt, mit Marie zu kommunizieren. Großartig bebildert wird all das - inklusive der von Szenenbildner Jurek Kuttner („Der Hauptmann“) perfekt gestalteten Verwandlung des schlammigen Bergdorfs zur asphaltierten Touristenhochburg - von Kameramann Armin Franzen („Das Boot“). Majestätische Landschaftspanoramen fängt er ein, man meint, die frische Bergluft ebenso zu riechen wie den Mief in der rauchgeschwängerten örtlichen Wirtschaft.

Wie die Vorlage ein Ausnahmewerk

Bestens ausgewählt sind sämtliche Darsteller. Furchterregend gibt Lust („Schnell ermittelt“) den Landwirt, der sein Vieh höher schätzt als die Menschen, perfekt füllt Stadlober („Crazy“) seinen Part als rauschbärtiger Gastronom, der sich trotz aller Schroffheit als echter Freund Eggers entpuppt.

Überzeugende Auftritte absolvieren Sägebrecht („Out of Rosenheim“) und Maria Hofstätter („Paradies: Glaube, Liebe, Hoffnung“), letztere als Volksschullehrerin, die gerne mit Egger das Bett teilen würde. Und im Zentrum glänzen Gorski („Contra“) und Richter („Undine“), denen man ihre Seelenverwandtschaft und unsterbliche Verbundenheit jederzeit abnimmt. Wie die Vorlage ein Ausnahmewerk.

Freier Autor Gebhard Hölzl, Print-/TV-Journalist, Autor und Filmemacher.

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