Der neue Film

"Die Ermittlung": Erschütternder Film über Auschwitzprozess

Regisseur RP Kahl zeigt in seiner Peter-Weiss-Adaption „Die Ermittlung“, wie es zu Auschwitz kommen konnte. Der vier Stunden lange Film ist zwar schwere Kost, aber dennoch sehenswert

Von 
Gebhard Hölzl
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Der gesamte, über 240 Minuten lange Film spielt sich in einer einem Gerichtssaal nachempfundenen Rauminstallation ab. © Hans-Joachim AKI Pfeiffer/Leonine/dpa

Der Nationalsozialismus und seine Folgen sind in heimischen Lichtspielhäusern derzeit wieder verstärkt Thema. Mit „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“ verfilmte Caroline Link die Memoiren Judith Kerrs. Mit Stella Goldstein, die im Dritten Reich als Jüdin untergetauchte Juden an Nazis verriet, befasste sich Kilian Riedhof in „Stella. Ein Leben“. Wesen und Wirken von (NS-)Propaganda beleuchtet Joachim A. Lang im Dokudrama „Führer und Verführer“. Gerne werden auch die diversen NS-Prozesse filmisch nachgezeichnet. Am berühmtesten ist da wohl Stanley Kramers amerikanische All-Star-Produktion „Urteil von Nürnberg“ (1961) mit Spencer Tracy, Maximilian Schell und Marlene Dietrich. Hierzulande hervorzuheben ist Lars Kraumes Adolf-Eichmann-Film „Der Staat gegen Fritz Bauer“ (2015) mit Burghart Klaußner in der Rolle des titelgebenden Frankfurter Generalstaatsanwalts. Nun legt - uraufführt jüngst beim Filmfest München - RP Kahl mit „Die Ermittlung“ wuchtig nach.

Darf man eines der größten Verbrechen der Menschheitsgeschichte ästhetisieren?

Das künstlerisch radikale Ausnahme-Projekt über die Auschwitz-Prozesse, die von 1963 bis 1965 in Frankfurt am Main stattfanden, basiert auf dem gleichnamigen Theaterstück von Peter Weiss. Als „Oratorium in 11 Gesängen“ hat der Schriftsteller sein Werk angelegt, als religiöses Singspiel in Versform. Was seinerzeit bei der Veröffentlichung heftige Kontroversen auslöste. So wurde etwa häufig gefragt, ob man eines der größten Verbrechen der Menschheitsgeschichte ästhetisieren darf. Durchaus, meint der Regisseur, der gerne - siehe „Als Susan Sontag im Publikum saß“ - jenseits des Mainstreams arbeitet. Begründung: „Es ist zu beschreiben, denn es hat stattgefunden“. Mit diesem Satz eröffnet er sein Drama.

Persönliche Aufzeichnungen von Weiss (1916 bis 1982), der die Verhandlung beobachtete, Zeitungsartikel und Protokolle dienen als Fundament. Im Zentrum stehen ein Richter (Rainer Bock), ein Verteidiger (Bernhard Schütz) und ein Ankläger (Clemens Schick), die auf Zeugen beiderlei Geschlechts treffen, die von ihren Erlebnissen im Vernichtungslager berichten. Die Angeklagten werden mit deren Aussagen konfrontiert, sollen Stellung beziehen. Ein einfaches Konzept. Aber nur auf den ersten Blick ein klassischer Prozessfilm.

In nur einer Einstellung gedreht - Akzente punktgenau gesetzt

Nach intensiver, vierwöchiger Probenzeit haben die rund 60 Schauspielerinnen und Schauspieler - darunter namhafte Publikumslieblinge wie Christiane Paul, Tom Wlaschiha, Sabine Timoteo, Peter Lohmeyer und Dorka Gryllus - an insgesamt fünf Drehtagen im Studio Berlin Adlershof die einzelnen Gesänge eingesprochen. Festgehalten mit einem ausgefeilten visuellen Konzept, in jeweils nur einer Einstellung gedreht. Insgesamt acht Kameras kamen unter Leitung von Guido Frenzel („Life Inside Out“) zum Einsatz. Die Dekoration ist auf ein Minimum reduziert: ein paar funktionale Podeste, Mikrofone, Tische und Stühle. Sorgfältig ist die Ausleuchtung, viel Dunkel, wenig Hell. Die Zeugen und Zeuginnen kommen, treten ins Licht, sprechen ihre Sätze, gehen wieder ab. Die Angeklagten sitzen im Hintergrund, hören zu.

Rainer Bock

  • Auf der Bühne stand Rainer Bock etwa am Mannheimer Nationaltheater, von 2001 bis 2011 war er Ensemblemitglied des Bayerischen Staatsschauspiels. Man kennt ihn auch aus zig Krimireihen – von „Tatort“ über „Solo für Weiss“ bis „Dengler“.
  • Aufmerksamkeit erregte Bock als Dorfarzt in Michael Hanekes „Das weiße Band“. Steven Spielberg besetzte ihn im Kriegsepos „Gefährten“, Anton Corbijn im Agententhriller „A Most Wanted Man“ und Florian Henckel von Donnersmarck in „Werk ohne Autor“.
  • Für seine Hauptrolle als Möbelpacker in „Atlas“ gewann Bock 2019 den Deutschen Schauspielpreis und den Gunter-Rohrbach-Filmpreis, für seine Parts in „Das Boot“ und „Der Überläufer“ 2021 den Bayerischen Filmpreis.

Das Wort, der Text steht im Vordergrund. Jede Kameraeinstellung ist genau durchdacht, ebenso wie jede noch so kleine Kamerabewegung. Akzente werden punktgenau gesetzt - auch mit dem minutiösen Schnitt, den Peter R. Adam, Anne Fabini und Christoph Strothjohann verantwortet haben. Darauf abgestimmt ist die Musik von Matti Gajek - er hat schon für Kahl den Soundtrack zu „A Thought of Ecstasy“ komponiert -, die sparsam, dafür extrem wirkungsvoll, zum Einsatz kommt.

Eine stilistische Extravaganz, voll und ganz dem Sujet verpflichtet

Der Film ist ein rigides Gesamtkunstwerk, eine stilistische Extravaganz, voll und ganz dem Sujet verpflichtet. Brennend aktuell eingedenk des Rechtsrucks, der Europa und die USA erfasst hat, sowie der kriegerischen Auseinandersetzungen, die weltweit zunehmen.

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Zwei Schnittfassungen dieser Bühnenadaption liegen vor: Die eine 241 Minuten lang, die andere auf 186 Minuten gekürzt. Der Grund liegt auf der Hand. Mutigen, aufgeschlossenen Kinobetreibern, die den Vier-Stunden-Film spielen, geht pro Tag eine Vorstellung verloren - sprich die Einnahmen sind geringer. Deshalb ist es durchaus klug, zwei Variationen anzubieten, um ein möglichst breites Publikum zu erreichen. Dabei ist unbedingt zu erwähnen: Egal für welche Variante man sich als Zuschauer entscheidet - packendes, aufwühlendes und brisantes Kino, bei dem die Zeit wie im Flug vergeht, ist garantiert.

Freier Autor Gebhard Hölzl, Print-/TV-Journalist, Autor und Filmemacher.

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