Der neue Film

Der neue Film: In "Anora" trifft das Aschenputtel-Märchen auf die Realität

Im Film „Anora“ von Sean Baker verliebt sich eine New Yorker Stripperin in den Sohn eines russischen Oligarchen. Der seltene Fall eines Films, der Publikum und Kritik wohl gleichermaßen zu begeistern vermag

Von 
Gebhard Hölzl
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Schon die Schauplätze sind bei Sean Baker, geboren 1971 in Summit, New Jersey, spannend und unverbraucht. Nach Kissimmee ging’s in „The Florida Project“ (2018) – auf dem Filmfest Hamburg mit dem Kritikerpreis ausgezeichnet –, nach Texas City in „Red Rocket” (2021). Bekannteres Terrain betritt der vielfach ausgezeichnete Independent-Regisseur nun bei „Anora“, angesiedelt im Südwesten des New Yorker Stadtteils Brooklyn, in der Gegend des Vergnügungsparks Coney Island. Ein von russischen Einwanderern geprägtes Viertel, das Cineasten aus den Kriminalfilmen von James Gray, etwa „Little Odessa“, kennen.

„Anora“ spielt im Stripper- und Bordellmilieu

Auf den diesjährigen Filmfestspielen von Cannes setzte sich der Filmemacher gegen starke Konkurrenz – darunter Jacques Audiards hoch gehandeltes Gangster-Musical „Emilia Pérez“ – durch und gewann verdient die Goldene Palme.

Ins Stripper- und Bordellmilieu begibt er sich nach eigenem Drehbuch. Hier arbeitet die junge Anora (Mickey Madison), die sich selbst Ani nennt, im „HQ“ (Headquarter) als Animierdame, wo sie ihre Kunden zum lukrativen Lapdance ins Séparée bittet – die Regel: „look, don’t touch“, nur schauen, nicht anfassen. Nur wenige Minuten braucht Baker, um den Zuseher in diese ihm (vielleicht) fremde Welt einzuführen, in einer schnellen Montage untermalt vom Ohrwurm „Greatest Day“ von Take That.

Hier lernt die selbstbewusste, schlagfertige Frau, Star des Etablissements, Ivan (Mark Eydelshteyn) kennen, Sohn eines russischen Oligarchen, der mit Geld um sich wirft. Nonstop Party ist bei ihm angesagt, in teuren Restaurants, in hippen Clubs oder der Luxusvilla seiner Erzeuger, wo sie mit ihm bezahlten Sex hat. Rasch freunden sich die beiden an, nicht zuletzt weil Ani Russisch spricht und – bestens entlohnt – für jeden Blödsinn zu haben ist. Auch für einen Trip nach Las Vegas – im Privatjet versteht sich – und eine Spontanhochzeit. Womit Ivans Mama nicht einverstanden ist und anreist, um die Ehe annullieren zu lassen...

Eine Heldin, die sich in einer Männerwelt behauptet

Ein Drama, atemlos inszeniert, unterfüttert mit bösem Witz. Eine gegen den Strich gebürstete Screwballkomödie, eine (explizite) Love Story mit einer Heldin, die sich in einer Männerwelt behauptet. Schreiend, kratzend, fluchend. Die tumben Schergen der klunkerbehangenen Mutter, engagiert, um der in ihren Augen unbotmäßigen Affäre ein Ende zu setzen, sind mit der toughen Ani heillos überfordert, während ihr großsprecherischer Weichei-Gatte bald abtaucht und sich schließlich dem Willen der Familie beugt.

Wie einst bei John Landis heißt es „Kopfüber in die Nacht“, schnell ergreift man für Anora, quirlig von Mickey Madison („Once Upon A Time in … Hollywood“) verkörpert, Partei, wünscht sich, dass sie ihre Widersacher besiegt. Was ihr – versöhnlich-melancholisches Finale inklusive – im Prinzip gelingt.

Die zahlreichen Laiendarsteller machen ihre Sache gut

Der seltene Fall eines Films, der Publikum und Kritik wohl gleichermaßen zu begeistern vermag. Offenherzig und schlüpfrig, hart und humorvoll, mit zum Teil schablonenhaft gezeichneten Figuren. Ein krudes, streckenweise der Kolportage verpflichtetes B-Picture im A-Picture-Look, angesiedelt in schummriger Halbwelt. Große Namen fehlen, die zahlreichen Laien machen – gewohnt bei Baker – ihre Sache gut. Ein wüster Stil- und Genremix, der Realität wie dem (Aschenputtel-)Märchen verpflichtet, befeuert durch die Lebenslust einer etwas anderen „Pretty Woman“. Das muss man erst mal hinbekommen.

Freier Autor Gebhard Hölzl, Print-/TV-Journalist, Autor und Filmemacher.

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